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Kolumnen

Versöhnung und Heilung durch Dialog und Begegnung – mein offener Brief an die Aleviten

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Vor über einem Jahr sorgte mein Artikel über die Alevitische Gemeinde in Deutschland (AABF) e.V. für Aufsehen, in dem ich das politische und öffentliche Gebaren des Vereins gegenüber der türkisch-sunnitischen Minderheit in Deutschland kritisiert habe.

Unter anderem schrieb ich: „Es ist schauerlich, dass ein Verband, der eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft sein will, mit dem Willen und dem Rückenwind der Bundesregierung anti-türkische Ressentiments in der Gesellschaft verbreitet und fördert. Es ist daher Zeit, die AABF kritisch zu hinterfragen und ihre Arbeit ebenso kritisch zu begleiten. Denn es darf in einem demokratischen und pluralistischen Rechtstaat nicht möglich sein, dass eine ethnische und/oder ideologisch beladene Gruppe eine andere Bevölkerungsgruppe in der Gesellschaft mit dem Ziel der Marginalisierung diffamiert und denunziert – zumal diese Gruppe drei Millionen Menschen in diesem Land umfasst und damit die größte Minderheit bildet.”

Diese Kritik war meines Erachtens wichtig geworden, weil der Verband, der als staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft Privilegien genießt, sich darin engagiert, sunnitisches Leben in Deutschland zu marginalisieren, so mein Vorwurf. Ob bei der Beschneidungsdebatte, dem islamischen Religionsunterricht, der Interessenvertretung sunnitischer Organisationen in Deutschland oder den türkischstämmigen Politikerinnen und Politiker – die AABF war bis vor einem Jahr Stichwortgeber und Zeuge zugleich, um die sunnitische Gemeinde in Deutschland in der deutschen Öffentlichkeit unter Druck zu setzen. Der Artikel hat dazu beigetragen, dass das Wirken des Verbands unter kritischem Licht neu bewertet wird.

Für mich persönlich war der Artikel ein Glücksfall. Klar, ich habe viele negative und unqualifizierte Rückmeldungen bekommen. Aber ich bin auch ins Gespräch mit einigen Funktionären und Mitgliedern der AABF sowie Aleviten gekommen, die sich nicht politisch engagieren oder wenig politisch interessiert sind. Einige haben die AABF in Schutz genommen, andere weitere Einblicke über die Arbeit des Verbandes gewährt, wiederum andere haben ihn kritisiert. Und über diesen Austausch war ich froh, weil ich an die Gemeinsamkeiten, vor allem aber daran erinnert wurde, dass es wichtig ist, den Dialog zu suchen.

Unten veröffentliche ich eine E-Mail von mir aus einer Korrespondenz mit einem Funktionsträger der AABF e.V. in der Hoffnung, dass nicht nur meine Haltung besser verstanden wird, sondern auch die Gespräche sich fortsetzen und vielleicht sogar vertieft werden. Nur so können Grenzen, die uns trennen, überwunden werden.

***

Mein lieber alevitischer Freund,

da Sie bestimmt meinen kritischen Beitrag zur AABF gelesen haben, gehe ich davon aus, dass Sie mit der Publikation auf eine sehr charmante Weise auf die lebensbejahende Wertewelt der Alevitischen Gemeinde aufmerksam machen möchten. Ich danke Ihnen dafür!

Ich bin mit Aleviten aufgewachsen. Und wenn ich heute von mir behaupte, dass ich mich für eine gerechte, solidarische und tolerante Welt stark mache, so haben diese alevitischen Freunde, ihre Familien und die Gemeinde in Krefeld einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Ich habe fröhliche, mutige Menschen kennengelernt, die zueinander halten. Und mein Respekt gegenüber diesen hat sich schlagartig vervielfacht, als ich über die vielen Jahre auch erfahren musste, welches Leid die Aleviten erlebt haben.

Ich wünsche mir daher Versöhnung und Heilung, damit zwei Teile derselben Gemeinschaft wieder zueinander finden. Und diese Versöhnung und Heilung kann nur durch Dialog und Begegnung stattfinden. Und machen wir uns nichts vor, sie ist sogar ein langwieriger Prozess. Aber es gibt in der alevitischen Gemeinde auch Gruppen, die Revanchismus betreiben möchten, den ich im Übrigen dem Führungskader der AABF aus einschlägigen, persönlichen Erfahrungen unterstelle. Und mit diesen Erfahrungen bin ich nicht alleine. Das Vorgehen dieser Minderheit in der alevitischen Community zielt darauf ab, die türkisch-sunnitische Community in Deutschland anzuschwärzen und zu diffamieren sowie durch eine Negativabgrenzung auszugrenzen. Dabei lassen sie sich von politischen Kreisen in der sog. Mehrheitsgesellschaft manchmal hofieren aber oft instrumentalisieren.

Nein, die Aleviten sind nicht die „liberalen“ Vertreter des Islams, wie sie sich oft selbst darstellen. Die Aleviten bieten einen anderen Zugang zum Islam und gehen darin einen anderen Weg als die Sunniten oder Schiiten es tun. Nein, die Aleviten sind nicht die „demokratischeren“ Vertreter der Türken bzw. Kurden. Sie wurden aufgrund ihrer Erfahrungen anders politisiert und haben daher eine andere politische Erziehung bzw. Sozialisation genossen. Sie sind nicht besser als Sunniten. Sie sind aber auch nicht schlechter als sie. Und wenn man genau hinschaut, dann geht es nicht um besser/schlechter, gut/böse, liberal/konservativ oder demokratisch/undemokratisch, sondern schlicht um Furcht vor Benachteiligung durch den anderen.

Die Furcht vor Benachteiligung, die die alevitische Gemeinde erlebt, ist eine andere als die die sunnitische Community zurzeit erlebt. So hat die sunnitische Community nicht das Gefühl in Deutschland gewollt zu sein und hat in der Vergangenheit erlebt, wie politische Kreise und Medien der Mehrheitsgesellschaft die alevitische Community als die erwünschten „Migranten“ vermarktet haben, auf diese Schiene auch einige Aleviten selbst aufgesprungen sind.

Inzwischen durften viele verstanden haben, dass es mir nicht um schwarz/weiß, für/gegen Aleviten oder für/gegen Erdogan geht. Mir geht es um Balance. Und mir geht es darum, dass in der deutschen Gesellschaft, die uns alle beheimatet, jeder angemessen Raum besitzt, sich auszudrücken und nach eigenen Wünschen zu leben.

Reicht man mir die Hand, reiche ich auch die Hand. Hält man mir die Faust unter der Nase, um mich wegzudrängen, dann erlaube ich mir, um meinen Platz in der Gesellschaft zu kämpfen. Es gibt Unverbesserliche und Radikale auf beiden Seiten. Ich wünsche mir, dass sie kein Hindernis mehr für uns auf dem Weg der Versöhnung und Heilung sind.

Herzlichst,

Kamuran Sezer