Politik
Suruç, IS und PKK: Was passiert gerade in der Türkei?
Nach dem tödlichen Selbstmordanschlag auf eine Kobane-Solidaritätsgruppe in der Grenzstadt Suruç kommt es in der Türkei zu mehreren Mordanschlägen. Die Politiker weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Die PKK zeigt ihr wahres Gesicht.
Nach dem tödlichen Selbstmordanschlag auf eine Kobane-Solidaritätsgruppe in der türkischen Grenzstadt Suruç, bei dem 32 Menschen getötet wurden, kommt es vermehrt zu gewaltsamen Zwischenfällen und beunruhigenden Aussagen einiger Akteure, die den Frieden in der Türkei auf eine neue Probe stellen.
Der Selbstmordattentäter ist mittlerweile identifiziert. Es handelt sich um den 20-Jährigen Şeyh Abdurrahman Alagöz aus Adıyaman. Medienberichten zufolge gehen türkische Sicherheitskräfte davon aus, dass Alagöz zusammen mit seinem Bruder im Januar 2015 über die türkischen Städte Gaziantep und Kilis nach Syrien reiste und dort drei Monate vom sog. „Islamischen Staat“ (IS) im Umgang mit Sprengstoff geschult wurde. Die türkische Polizei fahndet mittlerweile auch nach dem Bruder Yunus Emre Alagöz, der möglicherweise ebenfalls einen Selbstmordanschlag in der Türkei ausführen könnte.
Wilde Gerüchte und wütende Anschuldigungen ranken sich unterdessen darum, wer neben dem IS noch die Verantwortung für den Anschlag trägt. Verschiedene, meist linke und pro-kurdische Gruppen, beschuldigen die türkische Regierung seit langem, den IS sowohl durch aktive Hilfe (z.B. durch Waffenlieferungen) und durch ihre passive Haltung gegenüber den IS-Netzwerken innerhalb der Türkei zu unterstützen. Viele dieser Kritiker sehen sich nach dem Anschlag von Suruç in ihrem Verdacht bestätigt.
Auch Selahattin Demirtaş, Co-Vorsitzender der pro-kurdischen HDP (Halkların Demokratik Partisi), machte kurz nach dem Anschlag die AKP-Regierung für die Tat verantwortlich. Er verwies auf die intensive Überwachung der Grenzstadt durch den türkischen Nachrichtendienst und schlussfolgerte, dass der Selbstmordattentäter nicht unerkannt nach Suruç hätte einreisen können. In diesem Zusammenhang wies er auch auf die politischen Spannungen zwischen der AKP und der HDP nach den Parlamentswahlen hin. Des Weiteren warnte er davor, dass es jederzeit neue Anschläge geben könnte. Er sprach von einem „Versagen des Geheimdienstes und der Sicherheitskräfte“ und rief die Bewohner der Grenzregion zu Syrien daher zur Wachsamkeit auf.
Keine Staatstrauer für die Opfer von Suruç
Der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç reagierte auf einer Pressekonferenz in Ankara auf die Vorwürfe und befeuerte seinerseits Spekulationen um die Mitwisserschaft des Anschlages: „Es war kein einziger Abgeordneter der HDP oder ein Vertreter der Stadtregierung anwesend. Wir werden Antworten auf diese Fragen finden.“
Für Ärger sorgt derweil, dass die türkische Regierung für die 32 in Suruç getöteten türkischen Staatsbürger keine Staatstrauer ausruft. Im Gegenteil: Die Staatsmacht reagiert vielerorts mit massiven Polizeieinsätzen und Tränengas auf Solidaritätskundgebungen für die Opfer.
Die Ereignisse in der Türkei erreichten außerdem durch die Reaktionen der PKK auf den Anschlag in Suruç eine neue Dimension. Cemil Bayık, Co-Vorsitzender des Exekutivrats der KCK (Dachorganisation der PKK), meldete sich in einer Stellungnahme zum Anschlag zu Wort. Er machte wie zu erwarten die türkische Regierung direkt für den Tod der 32 Opfer von Suruç verantwortlich. Doch Bayık ging noch weiter: Er nutzte die Stellungnahme zu Suruç, um andere KCK-Forderungen hervorzuheben. So forderte er von seinen Anhängern, ihre Sicherheit nicht mehr dem türkischen Staat zu überlassen, sondern selbst für ihre Verteidigung zu sorgen – auch gegen die türkische Regierung und den türkischen Staat. Kernargument Bayıks ist eine Gleichsetzung der AKP mit dem IS, aus der er eine Rechtfertigung für Aktionen gegen den türkischen Staat ableitet. Auch das PKK-Organ „Partei der freien Frau in Kurdistan“ (PAJK) rief er dazu auf, sich zu organisieren und die Selbstverteidigung in die eigenen Hände zu nehmen.
PKK-Terroristen schalten sich ein – mit tödlichen Folgen
Die Umsetzung dieser Forderung erfolgte prompt: In der Grenzsstadt Ceylanpınar wurden zwei türkische Polizisten mit Kopfschüssen in ihrer Wohnung getötet. Der militärische Arm der PKK übernahm in einer Stellungnahme am Mittwoch die Verantwortung für den Doppelmord und nannte die Tat eine „Straf-Aktion (…) als Rache für den Anschlag in Suruç“. Medienberichten zufolge töteten Mitglieder der auch als „Stadtguerilla“ bezeichneten Gruppe YDG-H („Revolutionäre Patriotischen Jugendbewegung“, Yurtsever Devrimci Gençlik Harekatı) am Dienstag in Istanbul einen mutmaßlichen ehemaligen IS-Kämpfer. Der Mann wurde in der Karayolları-Nachbarschaft im Viertel Sultangazi mit vier Schüssen getötet. Auch dieser Mordanschlag wurde von der YDG-H später als Reaktion auf den Anschlag in Suruç deklariert. Die YDG-H kündigte außerdem an: „Wir werden unsere Operationen gegen die IS-Gang fortsetzen und wir haben viele (von ihnen) identifiziert und werden sie exekutieren und bestrafen.“
In der Nacht zum Mittwoch wurde eine Polizeistation in der Gazi-Nachbarschaft mit Schusswaffen angegriffen. Auf der Beerdigung zweier Opfer des Anschlages in Suruç im Istanbuler Gazi-Viertel waren am Mittwoch mit Schnellfeuergewehren bewaffnete Vermummte anwesend. Unverständnis rief in Teilen der türkischen Öffentlichkeit das Zeigen des Bildnisses von Abdullah Öcalan, dem inhaftierten PKK-Chef, während der Trauerzüge vor. Öcalan wird von vielen Türken für den Tod von mindestens 35.000 Menschen in der Türkei verantwortlich gemacht.
All diese Ereignisse und die Tatsache, dass der Türkei womöglich Neuwahlen bevorstehen, deuten auf eine Zuspitzung der Sicherheitslage hin. Beunruhigend ist, dass es dem IS – sollte er tatsächlich hinter dem Anschlag in Suruç stecken – gelungen wäre, durch einen einzigen Selbstmordanschlag in einer türkischen Kleinstadt die Spannungen zwischen türkischer Regierung und der kurdischen Bewegung massiv zu erhöhen. So warnte Demirtaş am Mittwoch auf einer Beerdigung zweier der Opfer von Suruç in Bursa: „Blut wird nicht nicht durch Blut rein“. Alle Akteure in der Türkei wären gut beraten, diese Warnung ernst zu nehmen.