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Bildung & Forschung

Syrien-Flüchtlinge in der Türkei und anderswo: Wer eine Schule eröffnet, schließt ein Gefängnis

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Wer nichts weiß, ist anfällig für radikale Heilslehren. Schaut man auf den blutigen Konflikt in Syrien, heißt das: Die Flüchtlingskinder brauchen Bildung, so schnell wie möglich. In der Praxis ist das gar nicht so leicht umzusetzen. Und das liegt nicht nur am Geld.

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Unter dem Motto „Keine verlorene Generation“ wirbt das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) um Spenden. Damit syrische Flüchtlingskinder wieder zur Schule gehen können, in den türkischen Städten, libanesischen Dörfern, im Nordirak und in den großen Flüchtlingslagern in Jordanien. Doch mit Geld alleine lässt sich das Problem nicht lösen. Die Helfer müssen vielerorts auch gegen Vorurteile, Bürokratie, Rassismus und religiöse Eiferer ankämpfen.

Vor der Adschnadien-Mädchenschule im jordanischen Irbid haben sich die Mädchen am Morgen aufgestellt. In ihren khakifarbenen Schuluniformen sehen sie aus wie eine fröhliche Pfadfindertruppe. Schräg neben dem Gebäude stehen neue Wohncontainer mit zusätzlichen Toiletten, bezahlt mit deutschem Steuergeld.

Jordanien, der Libanon und die Türkei sind keine armen Staaten. Deshalb knüpfen die Bundesregierung und andere Geber ihre Hilfe in den Anrainerstaaten Syriens an eine Bedingung: Renoviert und erweitert werden nur Schulgebäude, in denen neben den einheimischen Kindern auch syrische Flüchtlinge unterrichtet werden. So wie an der Adschnadien-Schule läuft es auch in vielen anderen Schulen. Am Nachmittag, wenn die jordanischen Kinder zuhause sind, beginnt die zweite Schicht. Dann sind die Syrer an der Reihe. Um alle Kinder morgens zu unterrichten, fehlt der Platz – und manchmal auch die notwendige Toleranz.

Konflikte aus dem Elternhaus übertragen sich auf die Kinder

Wo Iraker, Türken, Jordanier oder Libanesen gemeinsam mit den Flüchtlingen die Schulbank drücken, kommt es oft zu Konflikten, die wohl das widerspiegeln, was die Kinder daheim von ihren Eltern hören. „Die wollen uns hier nicht“, sagen die Syrer. „Die Syrer treiben die Löhne in den Keller und die Mieten in die Höhe“, klagen die Einheimischen.

Walaa Muhammad (15) bewohnt mit ihrer Familie ein Zimmer in einem Rohbau in der libanesischen Ortschaft Bar Elias (Bekaa-Ebene). „Ich will nie, nie wieder zur Schule gehen“, sagt das syrische Mädchen mit fester Stimme. „In der libanesischen Schule haben uns die anderen Kinder beschimpft, die Mädchen genauso wie die Jungen“, erzählt sie.

„Dieses Volk mag uns nicht, bei den Libanesen geht es immer nur um Geld“, sagt ihr Vater, Dschumaa Muhammad, voller Verbitterung. Sein Hof in Al-Ghutha Al-Scharkija bei Damaskus sei heute von Soldaten besetzt, hat man ihm berichtet. Manchmal träumt er von der Ernte, von seinen Aprikosenbäumen. Ob er sie wiedersehen wird? Achselzucken.

Jahrelang kein Klassenzimmer von innen gesehen

Im acht Kilometer entfernten Taalabaja wird am gleichen Tag eine Schule eingeweiht, die mit deutschen Mitteln auf Vordermann gebracht wurde. Es riecht nach frischer Wandfarbe. Scheppernd tönt erst die libanesische Nationalhymne durch den Versammlungsraum, dann die deutsche. Mustafa Abu Hamdan hält eine Rede. Der grauhaarige Arabisch-Lehrer sagt: „Wer eine Schule eröffnet, der schließt ein Gefängnis.“ Die Kollegen applaudieren. Mehr als die Hälfte der 700 Kinder, die sie an der Taalabaja-Mittelschule unterrichten, sind Flüchtlinge aus Syrien. Ein Großteil von ihnen hat durch Krieg und Flucht jahrelang kein Klassenzimmer von innen gesehen.

Acht staatliche Schulen hat die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Libanon bisher „rehabilitiert“. Zehn weitere Schulgebäude sollen folgen. Das Geld stammt aus der Sonderinitiative Flucht von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU).

„Es ist die Regel, dass es zu Konflikten kommt, die Kinder kommen nicht miteinander klar, es gibt Fälle von Mobbing, die Lehrer sind oft überfordert, die Klassen überfüllt“, berichtet GIZ-Mitarbeiterin Tanja Carbone, die das Schulprogramm im Libanon betreut. Wenn die Syrer nachmittags Bilder malen, kann es passieren, dass sie am nächsten Morgen von den libanesischen Schülern zerrissen werden oder umgekehrt. Ergänzend zu den Baumaßnahmen werden deshalb ab sofort auch die Lehrkräfte geschult. Sie sollen lernen, „professionell mit psychosozialen Stressreaktionen und Traumata umzugehen“.

Das warnende Beispiel der Taliban

Gerd Müller hat auf einer Reise durch die Region in der vergangenen Woche betont: „Jedes syrische Kind muss zur Schule gehen.“ Der jordanische Bildungsminister Muhammad Thneibat hält dieses Ziel zwar für erstrebenswert, aber nicht für realistisch. Auch deshalb, weil derzeit niemand eine Prognose wagt, wie lange der blutige Konflikt im Nachbarland noch andauern wird. „Ich habe keine Ahnung, wann das vorbei sein wird“, sagt Thneibat.

Wer syrische Flüchtlingsschulen unterstützt, der weiß: Es geht nicht nur darum, dass die Kinder etwas lernen, sondern auch darum, was sie lernen. Das zeigt das Beispiel der Taliban, deren Bewegung ihre Wurzeln in den Islam-Schulen für afghanische Flüchtlinge in Pakistan hat. Islamische Stiftungen aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten finanzierten während des Bosnienkrieges – ähnlich wie jetzt im Syrien-Konflikt – Schulen mit islamistischer Ausrichtung für muslimische Flüchtlinge.

Bildungsminister Thneibat wartet an diesem sonnigen Herbsttag in Amman vor dem Amtssitz von Ministerpräsident Hani Mulki. Sein Handy klingelt im Minutentakt. Thneibat steht seit Schuljahresbeginn unter Beschuss. Lehrer und Eltern haben gegen den neuen, modernisierten jordanischen Lehrplan protestiert. Sie haben Schulbücher verbrannt und behauptet, die Änderungen «entfremden die Schüler von ihrer islamischen Identität“.