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Bildung & Forschung

Talentsuche in Deutschland: Das System ist schuld

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Während das System und die Schulen in Deutschland Talente aussortieren, gehen Talentförderer aus dem Ruhrgebiet auf diese Talente zu. Ein Talentförderer glaubt an die „Elite von Unten“ und sieht Potentiale, die anderen verborgen bleiben.

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Talentscout Suat Yılmaz
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Talente, die unentdeckt bleiben – ein Verlust, den man nicht wieder gut machen kann. Vor allem für Gesellschaft und Industrie in Deutschland. In einigen Fällen werden Talente durch Systeme und Regeln einfach ausgeschlossen, oder bleiben unentdeckt und verblassen. In anderen Fällen werden Talente und positive Signale ignoriert.

Kanzlerin erkannte Talent junger Palästinenserin nicht

Ein gutes Beispiel dazu lieferte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die kürzlich in Rostock einer palästinensischen Schülerin sehr sachlich – andere würden sagen kühl – erklärte, das einige Asylgesuche in Deutschland mit einer Abschiebung enden werden. Das betroffene Mädchen ist erst seit vier Jahren in Deutschland und spricht dennoch akzentfrei Deutsch. Sie formulierte gegenüber der Kanzlerin ihren Traum zu studieren, während andere Kinder so etwas als spießig einschätzen würden.

Dieses augenscheinlich begabte Mädchen bekam allerdings, entgegen ihrer Hoffnung auf Empathie und Lösung, nur eine sachliche Antwort der höchsten politischen Person Deutschlands. Auf diese pädagogisch weniger angemessene Herangehensweise brach das junge Talent vor laufender Kamera und inmitten ihrer Schulkameraden verzweifelt in Tränen aus.

Abschiebung bedeutet meist das Ende der Bildung und Qualifikation

Eine Abschiebung bedeutet für Kinder wie dieses Mädchen, dass der Traum vom Studium höchstwahrscheinlich endet, ehe es je beginnen kann.

Der Talentscout Suat Yılmaz sagt: „Die Bundeskanzlerin Merkel hat in der Situation nicht falsch gehandelt, aber trotzdem war es nicht gut.“ Für Yılmaz vertritt Regierungschefin Merkel ein System, das nicht nur dieses eine Talent übersieht, sondern nicht in der Lage ist, Einwanderung als große Chance zu sehen. Laut Yılmaz könnte Angela Merkel Deutschland zu einem der effektivsten Einwanderungsländer machen. Talente wie dieses Mädchen bräuchten wir in Zukunft noch mehr. „Die Frage ist, wollen wir diesen Prozess aktiv mitgestalten oder daraus nur eine Bedrohungs- und Sicherheitsthematik machen?“, so der Talentscout. Er fordert: „Weg von der Verwaltung von Einwanderung und Flüchtlingen, hin zu einem echten Management dieser Prozesse. Derzeit übersieht Deutschland tausende solcher jungen Talente und schickt sie nach Jahren im deutschen Bildungssystem nach Hause. Wenn das keine Verschwendung ist, dann weiß ich auch nicht mehr.“

Chancengleichheit erst durch Umkehrung des Bildungssystems möglich

Bildung hat in Deutschland nach wie vor ausschlaggebend mit dem Familienumfeld und der Herkunft zu tun. Während 77% aller Akademikerkinder studieren, ist dieser Anteil bei Nicht-Akademikerkindern verschwindend gering. Für Svenja Schulze (SPD), Ministerin für Wissenschaft, Innovation und Forschung des Landes NRW, ist das „auf jeden Fall ein Grund zur Sorge“.

Das durch Marcus Kottmann gegründete Projekt „Meine Talentförderung“ der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen hat unter der Leitung des ersten deutschen Talentscouts Suat Yılmaz bereits heute Bahnen gebrochen. Durch die rasant wachsende Nachfrage ist schließlich auch die Politik darauf aufmerksam geworden. Ende 2014 wurde es sogar schließlich als Regierungsprojekt des Landes NRW vorgestellt. Svenja Schulze ist begeistert von dem menschennahen und effektiven System der Talentförderung. Die Ministerin hat für die Talentförderung rund 32 Millionen Euro in die Hand genommen.

Neben der Westfälischen Hochschule bauen auch die Hochschule Bochum, Ruhr-Universität Bochum, FH Dortmund, TU Dortmund, Uni Duisburg-Essen und die Hochschule Ruhr-West eigene Talentscoutingsstrukturen nach dem Modell von Suat Yılmaz auf. Ministerin Schulze will mit diesem Projekt auch bundesweit Vorreiter sein und möglichst viele Universitäten dabei als neue Partner gewinnen. „Wir brauchen diese jungen Menschen, damit Nordrhein-Westfalen ein hervorragendes Industrieland bleibt. Für mich ist es wichtig, dass diese jungen Leute ihre Potentiale nutzen und entfalten“, so die Ministerin über die Förderung.

Yılmaz ist laut dem Pressesprecher der Ministerin „ein Prototyp“ und bislang auch der einzige Talentscout der Bundesrepublik. Nach seinem Prinzip und seinem Wirken sollen nun an allen Standorten weitere Talentscouts ausgebildet werden. 2011 begann die WHS mit Yılmaz als einzigem Scout. Heute sind es drei, und ab August wird das Team um Yılmaz fünf Köpfe zählen. Mit den neuen Partnerhochschulen werden es im Ruhrgebiet in den kommenden Monaten 30 Scouts. In Phase zwei kommen sogar noch mehr Talentsucher zum Einsatz.

Erst der Einblick hinter die Fassaden macht die Benotung fair

Nicht jeder Schüler schafft es, ein lupenreines Zeugnis auf den Tisch zu legen. Dabei sind die meisten Schüler sehr intelligent, aber kommen mit der Schule nicht richtig zurecht. Bei einigen sind es fachgebundene Probleme. Während einige in Mathematik den Klassenkameraden um Monate, wenn nicht um Jahre voraus sind, hängen sie bereits zum zweiten Mal in derselben Jahrgangsstufe fest und sind gefährdet, ohne einen Abschluss die Schule zu verlassen.

Bislang bleiben schwierige soziale Umstände und Hintergründe im bestehenden Benotungssystem völlig unberücksichtigt. Es sind beispielsweise Schüler dabei, die sich mit vier Geschwistern ein Zimmer teilen müssen oder keinen eigenen Arbeitstisch zur Verfügung haben. Dennoch bekommen alle Kinder nach denselben Kriterien die Leistungen benotet. Dabei müssen laut Talentscout Yılmaz eben solche besonderen Situationen als Talente begriffen werden und in die Benotung einfließen. Erst dann sorgt man für Gerechtigkeit und vor allem für eine Chancengleichheit.

Saarland trat als erstes Bundesland mit Gelsenkirchen in Kontakt

Mit der StudienStiftungSaarland wollen die Saarländer nun ein ähnliches Modell umsetzen. Dabei werden Schüler eingeladen, sich um ein sogenanntes Junior-Stipendium zu bewerben. Das Saarland ist nach NRW das erste Bundesland, das mit der WHS in Kontakt getreten ist und offen Interesse an dem Modell gezeigt hat. Laut Yılmaz ist die Nachfrage gewaltig. Einzelne Stiftungen, Private, Kommunalbetriebe für interne Ausbildungen, Universitäten und auch Politiker fragen ständig nach einem Termin. „Ich war auch schon an der Goethe-Universität in Frankfurt und einmal hat mich der erste Talentscout Österreichs angerufen.“

Ohne Bildung keine Chance

Es stehen zwar viele Studienberatungen zur Auswahl, aber ein ähnliches und menschennahes Konzept mit der Betreuung von Schule bis in den Beruf und auf Wunsch noch darüber hinaus kann bislang keine Alternative bieten. Aus diesem Grund scheint die Talentförderung von Marcus Kottmann und Suat Yılmaz so erfolgreich zu sein. Besonders im Ruhrgebiet ist die Talentförderung bereits über längere Jahre mehr als nötig gewesen.

Für Forscher des Landes ist klar: Durch die Digitalisierung der Industrie werden in kurzer Zeit weitere Berufe durch Roboter dem Menschen weggenommen. Vor allem aber sind Arbeiten betroffen, die sonst weniger gebildete Menschen verrichten. Durch die fehlende Qualifikation und den wegfallenden Tätigkeiten, geraten diese Leute in schwierige Situationen, auch psychosozial. Folgen: Armut, wachsende Kriminalität, schwindende Kultur und Zugehörigkeit. Somit sind am stärksten die Nicht-Akademiker-Kinder bedroht. Obwohl diese Kinder große Potentiale besitzen. An dieser Stelle sehen die Talentscouts aus Gelsenkirchen ihren Einsatzort.