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Politik

Tariq Ramadan über Mursi, Erdoğan und den Arabischen Frühling

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In einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Habertürk äußert sich Tariq Ramadan ausführlich zu dem ägyptischen Putsch, die Rolle von westlichen Staaten und warum er das Angebot, bei der Regierungsbildung mitzuwirken, abgelehnt hat. (Foto: rtr)

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Der Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan hält eine Rede in Portugal.
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Die Muslimbruderschaft hat es in Ägypten nicht geschafft, sich an der Macht zu halten. Die AKP regiert in der Türkei seit über einem Jahrzehnt. Doch in letzter Zeit häuft sich die Kritik, die sich insbesondere auf Premierminister Erdoğan konzentriert. Heute stellte er das Demokratiepaket vor, mit dem er seine Kritiker besänftigen will. Der Schweizer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan (Foto) spricht über die Lage in Kairo und Ankara und die Rolle des Westens in der Islamischen Welt.

In muslimischen Ländern kann sich die Demokratie nicht richtig etablieren. Sind Islam und Demokratie unvereinbar?

Wir müssen die Debatte über die Theorie von ihren Auswirkungen auf die Praxis getrennt betrachten. Nach Auffassung des Islam steht die Autorität der religiösen Persönlichkeiten nicht über der Autorität des Staates. Das sind zwei unterschiedliche Bereiche. Daher handelt es sich nicht um ein Grundsatzproblem. Wir müssen eigene Demokratiemodelle finden.

Also herrscht das Problem in der Praxis…

Wenn man versucht, wie im Irak eine westliche Demokratie aufzuzwingen, funktioniert das nicht. Man muss sie in die Kultur und Geschichte integrieren. Das Problem liegt nicht an der Unvereinbarkeit des Islam mit der Demokratie, sondern eher an der postkolonialen Tatsache des Militärs und der wirtschaftliche Entgleisung. Das ist es, was wir in Ägypten erleben…

Sie kommen aus einer Familie, die zu den Gründern der Muslimbruderschaft gehört. Wie sieht Ihre Haltung zum Putsch aus?

Ich war von Anfang an gegen die Idee des Arabischen Frühlings. Es gibt seit 2003 eine Strategie, die zuerst im Irak umgesetzt wurde. Die Demokratisierungsrhetorik von G.W. Bush bedeutet eigentlich Destabilisierung. Ihre Protagonisten setzen das auf drei Wegen um: Sie kontrollieren den Zugang zu Energiequellen wie Öl und Erdgas, indem sie das politische System zerstören. Dabei halten sie ihre schützende Hand über Katar und Saudi Arabien. Zweitens: Mit der Destabilisierung der Region schützen sie Israel und erleichtern somit die Besetzung der West Bank. Während des ganzen Prozesses wurden die Palästinenser ganz vergessen. An dritter Stelle kommt die wirtschaftliche Dimension, über die man nicht ausreichend diskutiert: Nachdem die Region politisch destabilisiert wurde, werden ihr Förderprogramme der IWF und Weltbank aufgezwungen. Dieser Prozess begann bereits im Jahr 2003. Nun sehen wir demonstrierende Menschen in Tunesien und Ägypten. Um es offen auszusprechen: Ich habe Zweifel darüber, ob wir uns auf dem Pfad der Demokratie befinden.

Und was ist mit dem zivilen Charakter der Proteste? Gehen Menschen nicht aus freiem Willen auf die Straße?

Die Leute, welche über das Freedom House und Albert Einstein Institut die Menschen in den sozialen Netzwerken anleiten, kommen aus staatlichen Einrichtungen. Die US-Regierung hat zugegeben, dass sie im vergangenen Sommer Blogger aus Syrien ausgebildet hat. Außerdem hat sie die Steuerung von 13 Millionen Menschen, welche sich vor dem 30. Juni an den Protesten beteiligt haben, eingestanden. Fazit: Es ist nicht schwer, Menschen auf die Straße zu locken.

Sie behaupten also, dass alles im Voraus geplant wurde?

Vor zwei Jahren habe ich der Muslimbruderschaft gesagt, dass dies eine Falle ist und sie bei den Wahlen nicht mitwirken sollten. Ich sagte ihnen: „Geht einen Schritt zurück und positioniert euch, falls möglich, als Gegenkraft“. Zuvor hat der Westen den Hamas-Sieg auf dem Wege der Wahlen unterstützt. Doch als sie an die Macht kam, wurde sie mit der Aussage ‚Schaut euch diese Terroristen an‘ zur Zielscheibe erklärt. Transparenz und Demokratie reichen nicht. Man muss auch darauf achten, vom wem die Steuerung ausgeht. Mein Großvater hat zwar die Muslimbruderschaft gegründet, doch von Beginn an habe ich eine kritische Haltung gegenüber der Bewegung eingenommen. Sie haben zahlreiche Fehler gemacht.

„Nach dem Gespräch war ich enttäuscht von Mursi“

Welche Fehler hat Mursi gemacht?

Sein erster Fehler war die Teilnahme an den Wahlen. Vor den Wahlen traf ich mich mit Mursi an der Oxford Universität. Von seinen Antworten war ich enttäuscht. Er verteidigte immer noch die alte Rhetorik und führte die Scharia als Referenz an. Als ich fragte, welche Folgen das für die Praxis hat und ob es einen zivilen Staat geben soll, konnte er keine klare Antwort geben.

Hatte er in der Frage „Scharia und Demokratie“ keine klaren Vorstellungen?

In der Frage, welche Schritte und Maßnahmen mit welcher Priorität zu gehen seien, war er verwirrt. Doch das war lange vor den Wahlen.

Und seine späteren Fehler?

Nach der Machtübernahme hat er es nicht verstanden, dass er keine Bewegung, sondern einen Staat führt. Er hätte seine Arme den Säkularisten, Kopten und Frauen öffnen müssen und keinen Machtkampf mit Militärs eingehen dürfen. Zudem war er zu naiv. Das Militär befand sich immer im Vordergrund. Ich bekam eine Einladung, mich an der Regierung zu beteiligen, doch wurde ich davor gewarnt: „Geh auf keinen Fall dort hin, das Land wird immer noch vom Militär kontrolliert.“

Wer hat Sie gewarnt?

Sowohl die Schweizer Regierung als auch Berater von Sarkozy. Die sogenannte Revolution war eigentlich ein Putsch der Mubarak-Gegner-Fraktion im Militär. Nachdem Tantawi Mubarak gestürzt hatte, folgte Sisi. Sisi ist ja nicht vom Himmel gefallen. Er ist in den USA ausgebildet und hat zudem gute Kontakte zu Israel. 3-4 Monate vor dem 30. Juni hat man die Strom- und Erdölzufuhr ausgesetzt – einen Tag nach den Protesten wurde sie wieder fortgesetzt! Das Ziel war, Mursi in eine schwierige Situation zu versetzen. Menschen sind auf die Straßen gegangen, um gegen die Scharia zu protestieren. Wer wollte denn die Scharia? Die Salafisten. Wer steckt hinter den Salafisten? Saudi-Arabien. Wer steckt hinter Saudi-Arabien? Natürlich die Amerikaner!

Ist es aber nicht etwas zu oberflächlich alles über den Konfessionskonflikt zu erklären?

Ja, auf jeden Fall ist es oberflächlich, doch es funktioniert! Assad ist ein Diktator und er muss gestürzt werden. Doch jeder neigt dazu, dies mit Konfessionsunterschieden zu erklären. Der Iran, die Hisbollah und Syrien auf der einen Seite und die Saudis, Katarer, Ägypten und Türkei auf der anderen Seite…

Über eine Intervention in Syrien wird diskutiert…

Ob eine Intervention stattfinden wird, bin ich mir nicht sicher – es könnte eine Inszenierung sein, um Zeit zu gewinnen. Wenn es tatsächlich eine Intervention geben sollte, könnte dies das Militär in eine schwierige Lage bringen und Assad schwächen. Ich glaube nicht, dass sie das tun werden.

Wird das Chaos zunehmen?

Zwischen den angeblich unversöhnlichen Lagern EU und USA auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite herrscht „Einigkeit darüber, sich nicht zu einigen“. Bis vor acht Monaten sahen sie Assad nicht als Feind. In den letzten 40 Jahren haben weder Assad noch sein Vater gegen Israel gehandelt. Assad war für sie der perfekte Feind: Wortstark, doch wenn es darauf ankommt, zu handeln, passiert nichts. Acht Monate lang haben sie Assad gedrängt, Reformen durchzuführen. Alles, was momentan in Syrien passiert, hat mit Ägypten zu tun. Die bis zum Tode opferbereite Opposition in Syrien sind die syrischen Muslimbrüder.

Was ist mit der Al-Qaida?

Die Salafisten und Radikalen haben sich erst später angeschlossen. Mit ihnen hat man versucht, die Islamisten zu schwächen. Vor zwei Wochen haben wir anhand eines Berichts in Le Figaro erfahren, dass Militärausbilder aus USA, Israel und dem Libanon oppositionelle Kräfte in Syrien ausbilden. Während sie die Muslimbruderschaft schwächen, unterstützen sie radikale Kräfte, um eine neue Opposition zu schaffen. Sie versuchen, die Islamisten zu spalten, um eine Opposition zu schaffen, die den Interessen der USA, Israels und der EU dient.

Ist es denn tatsächlich möglich, solch eine Opposition zu schaffen?

Nein, natürlich nicht. In Libyen haben sie so eine Opposition gebildet – und was ist passiert? Wer alles befand sich denn in der Übergangsregierung Libyens? Der französische Philosoph Bernand Henry Levi hat mit der Unterstützung von Sarkozy und den USA diese Gruppe gegründet. Das zeigt doch nur, dass alles von hinter den Kulissen gelenkt wird.

Apropos Henry Levi. Der türkische Ministerpräsident Erdoğan behauptete, dass Levi auch hinter dem Putsch in Ägypten stünde und musste dafür viel Kritik einstecken. Glauben Sie, dass er dabei eine Rolle gespielt haben könnte?

Ich glaube nicht, dass dies hinter den Kulissen geschieht, da er es ganz offen unterstützt. Welches Land hat dem ägyptischen Militär das Versprechen, „Wenn Ihr einen Putsch verwirklicht, wird die USA die finanzielle Unterstützung nicht einstellen“, gegeben? Natürlich Israel und die Araber! Sie können zwar einen kleinen Angriff auf Syrien verwirklichen, doch das beste Szenario für die USA ist die Fortsetzung des internen Konflikts.

Was für eine Zukunft erwartet die Muslimbruderschaft? Ist der Islamismus überholt?

Es gibt einige Denker, die behaupten, dass der Islamismus am Ende sei. Ich bin nicht dieser Meinung. Auch wenn die Menschen zweifeln, haben sie immer noch eine große politische Macht. Der Islamismus nähert sich nicht dem Ende, doch benötigt er eine tiefe Hinterfragung. Der politische Islam muss weniger politisch, mehr ethisch sein. Die Intellektuellen und Politiker haben keine Vision.

Hat der Westen die Muslimbruderschaft abgeschrieben?

Einige Tage vor dem Putsch dachte Mursi, dass die USA ihn unterstützen würden – doch die USA haben die Muslimbruderschaft nie unterstützt. Sie wollen auf lange Sicht keine Islamisten. Sie nutzen sie kurzfristig und achten eigentliche auf die Interessen Israels. Für Israel ist Muslimbruderschaft gleich Hamas. Hamas bedeutet Widerstand. Und um den Widerstand zu beseitigen, haben sie erst Mubarak, dann Sisi unterstützt.

Der Westen unterstützte lange den moderaten Islam und die Türkei wurde als Vorbild gezeigt. Ist jetzt auch damit Schluss?

Dass die AKP sich nicht als Islamisten, sondern als muslimische Demokraten bezeichnen, war eine neue Rhetorik. Erdoğan hat die Wirtschaft gestärkt und entwickelte seine eigene Strategie, um den Status quo zu verändern. Mit Israel hat er Beziehungen aufgebaut und sich die „Null-Probleme-Politik“ an den Landesgrenzen angeeignet. Er hat zwar versucht, in die EU einzutreten, doch wurde die Türkei abgelehnt, weil sie ein muslimisches Land ist. Daraufhin wandte er seinen Blick in den Osten und Süden. Dann haben sie erst verstanden, dass sie es auch mit ihm aufnehmen sollten.

Wie blicken Sie jetzt auf die Türkei?

Es ist nicht zu leugnen, dass die AKP-Regierung in der In-und Außenpolitik ziemlich klug vorgeht. Sie hat es geschafft, mit dem Militär abzurechnen. Dennoch antworte ich auf Fragen, ob ich die Türkei als Modell zu sehen ist, mit Vorsicht. Denn es herrschen interne Probleme mit Blick auf persönliche Freiheiten, Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Medien. Erdoğan sagte einst zu Mubarak „Das Leben ist vergänglich, unser Dasein ist befristet“. Jetzt wird in der Türkei das Präsidialsystem diskutiert. Nach 12 Jahren des Transformationsprozesses muss Erdoğan sich eingestehen, dass es nun an der Zeit ist, zu gehen.

Von der ‚Null-Problem-Politik’ sind wir an die ‚wertvolle Einsamkeit’ gelangt. Wie sehen Sie die türkische Außenpolitik?

Die enge Beziehung mit der EU war sehr klug. Gegen das Militär haben sie auf die EU-Karte gesetzt. Und gegen die EU haben sie den Zug mit China, Indien und Afrika gemacht. Die Null-Problem-Politik an den Grenzen war ebenfalls sehr intelligent. Doch aufgrund der Entwicklungen in der Region war dies keine realistische Strategie.

Wurden keine Fehler gemacht?

Nein, es war unmöglich, solch eine Politik zu verwirklichen. Wie können Sie eine konfliktfreie Zone bilden, während der ganze Nahe Osten destabilisiert wird?

Quelle: Haberturk.com