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Gesellschaft

Tiefgreifender als der 11. September

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Die Terroranschläge von Boston drohen erneut, einen Teufelskreis der Vorurteile und Ressentiments zu entfachen: Antimuslimische Stimmungsmache in den USA, antiamerikanische Agitation unter Muslimen. Aufklärung hilft, beidem gegenzusteuern. (Foto: aa)

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Tiefgreifender als der 11. September
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Als vor wenigen Wochen beim Marathon von Boston ein Anschlag verübt wurde und sich nach dem ersten Schock das Augenmerk auf die Täter richtete, hatte ich genau den gleichen Gedanken wie Millionen anderer in den USA lebender Muslime: „Oh weh! Was, wenn die Angreifer sich schon wieder als Muslime herausstellen?“ Und unsere schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. Es hat sich herausgestellt, dass die Angreifer zwei muslimische Brüder tschetschenischer Herkunft sind. Darüber hinaus lebten sie seit längerer Zeit in den USA – der eine ein US-Bürger und der andere ein Green-Card-Besitzer.

Vor allem der jüngere der Zarnajew-Brüder, welcher mit 8 Jahren in die USA gekommen ist, besaß das Profil eines wahren Amerikaners. Wären sie nur von irgendwo hierher importierte Terroristen wären, könnte es für uns vielleicht etwas leichter fallen, den Schlamm, der nun erneut auf uns geworfen wird, abzuschütteln. Nun aber ist unsere Aufgabe noch schwieriger. Vorurteile wie „noch nicht einmal den in den USA integriert scheinenden Muslimen kann man vertrauen“ könnten entstehen. Aus diesem Grund befürchte ich, dass die Angriffe in Boston im sozialen Bewusstsein vieler Amerikaner vielleicht Spuren von Vorurteilen gegen Muslime hinterlassen könnten, die noch tiefer reichen als die nach dem 11. September.

Verschwörungsspinner mögen schweigen!

Zunächst einmal bitte ich diejenigen um Verzeihung, die den Titel sehen und davon ausgehen, ich würde hier verschwörungstheoretische Erklärungen aufstellen. Denn auch das hatte nach Boston ebenso schnell Hochkonjunktur wie 2001. Dabei habe ich nicht einmal mit Blick auf den 11. September auch nur den leisesten Verdacht, dass dabei eine „innere“ Verschwörung stattgefunden haben könnte, an der „tiefe“ Hände mitgewirkt haben. Ich gehe davon aus, dass in den USA niemand in der Lage wäre – auch wenn er es sich wünschen würde – solch „tiefen Aktionen“ auf eigenem Boden auszuüben. Außerdem vermute ich – auch wenn ich einigen seiner Praktiken nicht zustimme – dass der amerikanische Staat für das Erreichen eines selbst noch so wichtigen strategischen Zieles eine Ermordung seiner Bürger durch terroristische Taktiken nie auch nur ansatzweise dulden würde. Dass momentan solche „tiefen“ Strukturen, wie es sie in der Türkei gegeben hatte oder in Europa zur Zeit des Kalten Krieges, in den USA selbst vorhanden wären, glaube ich auch nicht. In einem solch offenen Zeitalter wäre es zudem unmöglich, dass solche Strukturen weiterhin existieren könnten, ohne entschlüsselt zu werden.

Meiner Meinung nach gibt es nach den Anschlägen in Boston zwei wichtige Fragen, die ernsthaft angegangen werden müssen. Die erste Frage ist: Warum sind die USA immer noch in- und ausländischen terroristischen Aktionen ausgesetzt, an denen Muslime beteiligt sind, trotz der eindeutigen Bemühungen in Richtung einer weitreichenden Entspannungspolitik durch die Administration Obama? Die zweite Frage: Warum lässt die islamische Welt es zu, dass ihre Kinder in den Sumpf des Terrors einsinken? Auf diese Fragen müssen wir eine Antwort suchen.

Zuerst nehmen wir die Frage unter die Lupe, was denn die USA überhaupt machen würden, dass sie immer noch die terroristischen Reaktionen auf sich ziehen. Zunächst einmal kann ohnehin kein Fehler, keine Reaktion oder Kriegsführung den Terrorismus als Vergeltungsmethode rechtfertigen. Die Kontrolle der USA über die ganze Welt ist nicht unbedingt so mächtig, wie Verschwörungstheoretiker es behaupten – doch trotzdem gewiss sehr effektiv. Die Amerikaner haben unzählige positive Leistungen erbracht, natürlich tragen sie – wie könnte es bei einer Supermacht mit globaler Aufgabe auch anders sein? – die Verantwortung für Dinge, die weniger optimal gelaufen sind. Der radikale Kopf sieht jedoch nur die negativen Entwicklungen und schiebt die Verantwortung für jede Katastrophe den USA zu.

Radikale sehen nur das Negative an den USA

Somit ist es allerdings unmöglich, dass eine so auffällige und global bedeutsame Macht komplett von der Gefahr befreit werden könnte, den Hass von Radikalen und Extremisten auf sich zu ziehen. Entwicklungen, welche bei schlichten Gemütern den Eindruck erwecken, die USA würden andere Länder militärisch und wirtschaftlich ausbeuten, führen dazu, dass Wasser auf die Mühlen des Radikalismus fließt. Insbesondere die Form und Intensität, wie die USA ihr Militär einsetzen, wirkt auf sehr viele Menschen weltweit verstörend – sogar viele ihrer eigenen Bürger. Insbesondere blieb von der Regierungszeit George W. Bushs in den Köpfen vieler Menschen nur die Tatsache der Besetzung zweier muslimischer Länder, Afghanistans und des Iraks, im Gedächtnis haften – nicht, dass dort auch Schulen und Brunnen gebaut wurden oder dass der 43. Präsident wiederholt den Islam als einen „edlen Glauben“ bezeichnete. Und während der Regierungszeit Obamas erzeugten ferngesteuerte unbemannte Luftfahrzeuge und die rücksichtslosen Mechanismen außergerichtlicher Hinrichtungen im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus für Bitterkeit.

Warum aber kommen immer wieder Muslime mit dem Terrorismus in Berührung? Muslime, die sich für den Extremismus erwärmen können, stellen eine kleine Minderheit dar. Die meisten dieser Leute kommen aus Failed States wie Palästina und Tschetschenien, also Ländern, die stark unter Druck stehen. Es gibt welche, die versuchen, ihren durch die großen Mächte wie die USA unterdrückten Stolz durch die Zuflucht zu vermeintlicher religiöser Stärke zu reparieren. Einige Radikale mit saudi-arabischen Wurzeln gehören zum Beispiel dazu. Mithilfe verzerrter Interpretationen der Religion wird der Terrorismus verinnerlicht und gerechtfertigt. Während der Islam damit auf das Niveau einer nervösen weltlichen Ideologie herabgewürdigt wird, geht das große Bild des Friedens, des Teilens und der Liebe verloren. Es sind Typen entstanden, die sich mit einer Waffe in der Hand an religiösen Interpretationen versuchen und mit ihrem eigenen engen Blick den Islam inhaftieren.

Sie vertreten nicht die Mehrheit der Muslime, doch uns allen wird am Ende die Hauptverantwortung für ihre Vorgehensweisen aufgebürdet. Die islamische Welt ist zu vergleichen mit einer Familie, die ihren Vater verloren hat und deren Kinder in alle Winde zerstreut in Disziplinlosigkeit herumwandern. Nach Auffassung vieler Experten ist es sogar unmöglich, von so einer „Welt“ zu sprechen. Auch gibt es ein ernsthaftes Defizit an wegweisenden Informationen und qualitativ ernstzunehmenden Intellektuellen. Seltene Persönlichkeiten wie Fethullah Gülen, die von all dem verschont geblieben sind, werden weder von ihrer eigenen Heimat, noch vom Westen in Ruhe gelassen.

Hätten sie Gülen gekannt, hätten sie ihre Taten nie begangen

Dr. Hakan Yavuz von der Utah University hat kürzlich ein Buch mit dem Titel „In Richtung einer islamischen Aufklärung: Die Gülen-Bewegung“ (Towards an Islamic Enlightenment: The Gülen Movement, Oxford University Press, 2013) veröffentlicht. Yavuz, der in seinem Buch die Hizmet-Bewegung und Gülen auch mit konstruktiver Kritik aus einer akademischen Perspektive analysiert, hat letzte Woche anlässlich der Vorstellung seines Buches im Rumi-Forum Washington eine Präsentation abgehalten. In einem Gespräch nach der Veranstaltung sagte Yavuz mit Blick auf die Boston-Attentäter: „Wenn diese Jugendlichen Gülen gekannt hätten, hätten sie solche Taten nicht begangen.“

Gerade für Muslime, die sich auf Grund der Islamophobie und Turkophobie in einem Teil des Westens und des Wunsches, in der Fremde an ihren eigenen Wurzeln festzuhalten, nicht in einem Zustand innerer Harmonie befinden, ist das Buch von Yavuz aufgrund der Darstellung, wie eine Neuadaption der türkisch-islamischen Tradition in Übereinstimmung mit der Moderne gebracht werden kann, sehr lesenswert. Dass Fethullah Gülen in Anbetracht der Wertschätzung der Beiträge der Hizmet-Bewegung für Frieden, Bildung und Toleranz von der Zeitschrift „Time“ zu einem der weltweit 100 einflussreichsten Menschen gewählt wurde, illustriert eine bemerkenswerte Entwicklung.

Ich hoffe, dass der Anschlag von Boston nicht zu größerer Islamophobie in den USA und als Reaktion darauf zu einem extremeren Widerstand in der islamischen Welt gegen die USA führt.

Um dies zu vermeiden, fällt sowohl dem amerikanischen Staat und dessen Meinungsführern, als auch den Muslimen große Verantwortung zu.

Autoreninfo: Aslan war jahrelang als Auslandskorrespondent verschiedener Zeitungen in den USA tätig und ist heute Kolumnist bei „Zaman“.