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Kolumnen

Der Tod in Offenbach und die emotionale Lücke

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In diesem Land schien Spontanität und Empathie bei vielen Menschen in Deutschland abhanden gekommen zu sein. Der Fall der inzwischen verstorbenen Tuğçe zeigt aber das Gegenteil. (Foto: dpa)

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Tuğçe-Albayrak-Offenbach-Zivilcourage
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Der tragische Tod der Studentin Tuğçe A. hat Wellen geschlagen. Zusammen mit einer Reihe weiterer Ereignisse, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, gestattet er eine schmerzhafte Momentaufnahme zur Situation und Gefühlslage der türkischstämmigen Deutschen.

Zunächst zeigt die spontane Reaktion im Rhein-Main-Gebiet mit der Beteiligung von Tausenden von Menschen an Mahnwachen ein großes Ausmaß an Empathie. Spontanität und Empathie ist vielen Menschen in Deutschland abhanden gekommen. Gleichzeitig stellt das Zusammenkommen vieler Menschen aber auch eine Form von stillem Protest dar: „Die Mehrheitsgesellschaft schützt uns nicht genug“, so der unartikulierte Vorwurf, angefangen bei den Mitarbeitern des Schnellrestaurants, die den Tod der Studentin durch ein beherztes Eingreifen vielleicht hätten verhindern können, wie die Familie von Tuğçe glaubt.

Emotionale Lücke zwischen Mehrheit und Minderheit

Die Solidaritätsbekundungen zugunsten der zunächst ins Koma gefallenen, danach verstorbenen jungen Studentin sind darüber hinaus auch ein Hinweis, dass die deutsch-türkische Gemeinschaft zumindest in Teilen die Mordserie der sogenannten Terrorgruppe NSU noch nicht verwunden hat, dass ein einziger gravierender Vorgang Vertrauen erschüttert, dass sich die Protestierenden Kraft aus Gemeinschaftserlebnissen holen müssen. In diese existierende und neu entstandene emotionale Lücke zwischen Mehrheit und Minderheit zielt dann auch das Telefonat des türkischen Präsidenten Recep Tayyib Erdoğan mit den Eltern von Tuğçe.

Das stille Gedenken an die junge Frau fällt nicht zufällig mit anderen Vorgängen in Deutschland zusammen, mit einem Anwachsen der Protestpartei AfD, von der man nicht weiß, welchen Weg sie am Ende einschlagen wird und vor allem mit dem neuen Straßenprotest einer Formation, die aus dem Nichts aufgetaucht ist und sich Pediga nennt.

Pegida mobilisiert nicht nur Rechtsradikale 

Sie wehrt sich gegen eine drohende Islamisierung Deutschlands und hat zuletzt in Dresden Tausende von Menschen auf die Straße gebracht. Aber auch im für seine Toleranz gerühmten Rheinland, in Düsseldorf, gingen erstaunlich viele Menschen für Pegida auf die Straße. Unter ihnen befanden sich bekannte Rechtsradikale, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass für Pegida auch ganz normale Bürger die warme Adventsstube verlassen haben. Pegida mobilisiert verrückterweise gerade dort besonders erfolgreich, wo es sehr wenige Deutschtürken und muslimische Migranten aus anderen Ländern gibt, wie z.B. in Sachsen. Das muss Besorgnisse hervorrufen.

Deutschland wird weiterhin ein weltoffenes Land bleiben, hoffentlich. Aber die Signale sind unübersehbar, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung mit der Zuwanderung und den jüngsten Flüchtlingswellen Probleme hat. Sie beruhen zum Teil darauf, dass die Regierung die Themen nicht ausreichend kommuniziert. Dazu gehört auch, ungefähre Größenordnungen anzudeuten, die – was Flüchtlinge aus Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten, aus Pakistan und Afghanistan angeht – auf die Bundesrepublik zukommen. Man muss auch den Mut haben, der Bevölkerung zu sagen, dass dies vermutlich eine dauerhafte Herausforderung an das Land bleiben wird. Und die Regierung muss alles daran setzen, dass die gesamte EU dabei mitmacht, und nicht nur neben Deutschland zwei weitere Länder.

Aufschwungsstimmung statt Gesetzesperfektionismus

Fachleute schätzen, dass Deutschland eine permanente Zuwanderung von 300 000 Menschen pro Jahr verkraften kann, dass es Einwanderung in dieser Größenordnung sogar benötigt, um mit den Problemen einer rasch alternden Gesellschaft fertig zu werden. Aber dann muss das Land auch zu alten Tugenden zurückkehren, vom Gesetzesperfektionismus lassen, improvisieren und rasch Unterkünfte, Schulen und Ausbildungsplätze für jene schaffen, die Syrien und anderen Ländern aller Wahrscheinlichkeit nach für immer den Rücken kehren.

Von einer derartigen „Aufbruchstimmung“ ganz anderer Art spürt man in Deutschland leider nichts. Unterkünfte für Flüchtlinge – bitte woanders! Unterlässt die Politik den dringend erforderlichen Dialog mit der eigenen Bevölkerung, gefährdet sie am Ende auch die Integration der türkischstämmigen Deutschen hierzulande, die sich insgesamt auf einem guten Weg befindet. Auch darum ging es in Offenbach.