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Gesellschaft

Sotschi: Das Schicksal der Tscherkessen

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Sotschi wird Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014 sein. Das Museum für Völkerkunde will das Ereignis zum Anlass nehmen, um in Kooperation mit den Tscherkessen selbst an das Schicksal des fast vergessenen Volkes zu erinnern.

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Tscherkessische Tänzer - reuters
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Das Museum für Völkerkunde Hamburg will in Kooperation mit Vertretern der Volksgruppe der Tscherkessen die bevorstehenden Winterspiele in Sotschi zum Anlass nehmen, um an ein historisches Ereignis in Sotschi zu erinnern, dem in der Vergangenheit kaum Beachtung geschenkt wurde: die gewaltsame Vertreibung von bis zu 1 Millionen Tscherkessen aus ihrer Heimat im Kaukasus. Genau 150 Jahre vor den Olympischen Spielen endete dort die letzte Schlacht gegen das russische Kaiserreich und die Vertreibung eines der ältesten Völker Europas begann. Das Museum für Völkerkunde Hamburg hat den Tscherkessen nun eine Sonderausstellung gewidmet. Der Direktor des Museums, Herr Prof. Dr. Köpke, sprach mit dem DTJ über das Volk der Tscherkessen und Sotschi.

Herr Prof. Dr. Köpke, wer genau sind die Tscherkessen, woher kommen sie und warum richtet Ihr Museum eine Sonderausstellung für dieses Volk aus?

Das ist eine längere Geschichte. Ich selbst habe mich bereits sehr früh für die Völker des Kaukasus interessiert. Im Rahmen meiner Recherchen zu den Grundlagen der europäischen Kultur, die ich seit den 1980er-Jahren betrieben hatte, als ich Leiter der Abt. Europa im Berliner Völkerkundemuseum war, habe ich mich dann intensiver mit den Tscherkessen und ihren Nachbarvölkern auseinandergesetzt. Die Tscherkessen gelten als eines der „Urvölker“ Europas. Unstrittig ist wohl, dass einige der grundlegenden Kulturtechniken unseres Kontinents, wie der Weinbau, aus dem Nordwestkaukasus stammen. Im Museum für Völkerkunde Hamburg beschäftigen wir uns seit 1993 mit dem Nordwestkaukasus, ausgelöst durch den Unabhängigkeitskrieg Abchasiens von Georgien. Wir wollten damals einfach sachlich über diese nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sehr bedeutende geostrategische Region und über ihre Menschen und Kulturen berichten. Daraus entstanden zahlreiche Veranstaltungen mit Abchasen, Tscherkessen, aber auch mit Georgiern und Armeniern. Dies wiederum führte auch zu zahlreichen persönlichen Bindungen und Freundschaften. Von tscherkessischen Freunden wurden wir bereits vor 3 Jahren auf das Problem „Sotschi“ und das Zusammenfallen der Olympischen Winterspiele mit dem 150. Jahrestag des „Sürgün“ aufmerksam gemacht. Wir haben die Wut und das Ohnmachtsgefühl vieler junger Tscherkessen in der Diaspora mitbekommen. Wir haben dann diese Gefühle gemeinsam mit vielen Vertretern der tscherkessischen Vereine analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass das wichtigste Problem der Tscherkessen ist, dass zu wenig Menschen überhaupt wissen, dass es sie gibt. Daher besteht auch die Gefahr, dass alle Proteste gegen Sotschi einfach verpuffen, weil kaum jemand begreift, wer da eigentlich weswegen protestiert.

Daher haben wir uns als Museum zum Ziel gesetzt, durch eine Ausstellung die wunderbare Kultur der Tscherkessen bekannter zu machen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aus unserer Sicht ist es das wichtigste Ziel, dass tscherkessische Sprache und Kultur weiterhin überleben und blühen. Das ist die ungeheure, viel zu wenig gewürdigte Leistung der Tscherkessen in der Diaspora, dass immer noch Millionen Menschen außerhalb des Mutterlandes die schwierige tscherkessische Sprache beherrschen. In der jungen Generation ist dieses Können aktiv bedroht. Wir wollen die großartige Arbeit der Vereine ergänzen und dazu beitragen, dass junge Tscherkessen wieder stolz auf ihre Kultur sind und weiterhin die Mühe auf sich nehmen, sie zu pflegen. Wenn wir damit ein wenig Erfolg haben, dürfen wir vielleicht die Tscherkessen bei der Pflege ihrer Kultur weiterhin begleiten.

Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die geringe Beachtung der Geschehnisse von 1864?

Die Gründe sind vielfältig. Natürlich hatte die russische Regierung im 19. Jahrhundert alle Gründe, das Thema nicht mehr zu berühren. Die enge Nationalitätenpolitik der Türkei unter Atatürk und seinen Nachfolgern hat ein Übriges dazu getan. Auch durch die Abschottung der Sowjetunion nach 1945 hat das Interesse an den Völkern im Kaukasus nachgelassen. Und ein wenig scheint die geringe Beachtung auch mit dem tscherkessischen Nationalcharakter zu tun zu haben: Meiner Erfahrung nach sind Tscherkessen eher bescheiden und zurückhaltend, es liegt ihnen, glaube ich, nicht, andere sehr stark auf sich aufmerksam zu machen. Hinzu kommt die starke Traumatisierung eigentlich aller Tscherkessen durch die Ereignisse von 1864 und auch durch die bei vielen darauf folgenden erneuten Vertreibungen. Einige Familien wurden in den letzten 150 Jahren vier Mal vertrieben. Ich glaube, dann verstummt man eher, als dass man lauthals klagt und versucht einfach nur, zu überleben.

Welche historische bzw. emotionale Bedeutung hat Sotschi für die Tscherkessen?

Sotschi und die damit verbundenen Ereignisse des Krieges und der Vertreibung hat für alle Tscherkessen eine hohe emotionale Bedeutung. Allerdings gehen erfahrungsgemäß verschiedene tscherkessische Gruppen damit unterschiedlich um. Gerade in der Türkei, insbesondere unter der jungen tscherkessischen Bevölkerung, scheint mir der Widerstand gegen die Olympischen Winterspiele besonders groß zu sein. Zusammen mit einigen amerikanischen Tscherkessen wurde in diesem Sinne die No-Sotschi-Bewegung initiiert, die Protestkundgebungen und Informationsveranstaltungen in der Türkei, aber auch weltweit organisiert. In den tscherkessischen Republiken im Kaukasus habe ich vor einigen Wochen viele Menschen erlebt, die die Zähne zusammenbeißen, aber sagen, wir können nichts daran ändern. Andere wiederum und gar nicht wenige, meinten, man müsse sich mit den Russen und eben auch mit Sotschi arrangieren, im Übrigen aber daran arbeiten, die eigene Kultur selbstbewusst weiter zu stärken. Auch bei vielen syrischen und jordanischen Tscherkessen habe ich diese Haltung gefunden. Die russische Regierung scheint auf beide Haltungen reagieren zu wollen und verspricht, wie zuletzt der russische Vizepremier Dimitri Nikolajewitsch Kosak am 16. Oktober in Sotschi, vor Vertretern der tscherkessischen Diaspora und der tscherkessischen Republiken eine Stärkung der tscherkessischen Kultur in Russland, ein aktives Gedenken an die Vertreibung 1864 und eine angemessene Vertretung der tscherkessischen Kultur während der olympischen Feierlichkeiten. Was sich davon erfüllt, wird sich im Februar 2014 zeigen und entsprechend werden sicherlich auch die tscherkessischen Reaktionen ausfallen.

Welche Forderungen und Hoffnungen gibt es vonseiten der Tscherkessen in Bezug auf die Winterspiele 2014 in Sotschi?

Es gibt Gruppen, die eine öffentliche Entschuldigung der heutigen russischen Regierung für die Verbrechen Russlands in den Kaukasuskriegen bis 1864 und die sich daran anschließenden Vertreibungen verlangen. Andere sind moderater. Ich zitiere einen Teilnehmer eines unserer Workshops: „Ich möchte, dass bei der olympischen Eröffnungsfeier vor allen anderen Teilnehmern ein Tscherkesse in tscherkessischer Tracht marschiert, der eine tscherkessische Fahne schwenkt und damit deutlich macht, dass das Land von Sotschi eigentlich unser Land ist. Mehr will ich gar nicht.“ Andere Gruppen, vor allem im Land selber, versprechen sich eben das, was die russische Regierung ihnen jetzt angeboten hat: eine Stärkung ihrer kulturellen und ökonomischen Lage im Rahmen der jetzigen politischen Situation. Aber alle wünschen sich, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für die Region auch dazu führt, dass möglichst viele Tscherkessen sich wieder in der alten Heimat ansiedeln mögen.

Wo leben die Tscherkessen heute? Wie viele leben in Deutschland, wie viele in der Türkei?

Es ist schwer, Zahlen zu nennen. Regierungen tendieren dazu, diese Zahlen möglichst niedrig anzusetzen, tscherkessische Organisationen neigen gelegentlich dazu, sie sehr hoch anzusetzen. Wirklich verlässliche Zahlen gibt es eigentlich nicht. Es ist auch die Frage, ob man alle mit ein bisschen tscherkessischem Blut in den Adern als Tscherkessen zählt oder nur die, die sich auch selber als Tscherkessen fühlen und bekennen. Andere wiederum möchten nur die anerkennen, die auch die tscherkessische Sprache beherrschen.

Ich denke, wenn man von einem mittleren Standpunkt ausgeht, also davon, wer sich selbst als tscherkessisch fühlt, kann man insgesamt weltweit von etwa 4 Millionen Menschen ausgehen. Das ist mehr als eine ganze Reihe etablierter europäischer Staaten an Einwohnern hat. Von diesen 4 Millionen leben schätzungsweise knapp 900 000 in Russland, etwa 50 000 in Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Frankreich, je etwa 100 000 in Syrien und in Jordanien, kleinere Gruppen im Irak, in Libyen, in Israel und in den Vereinigten Arabischen Emiraten, 10 000 in Australien, etwa 15 000 in den USA. Weit über 2 Millionen Tscherkessen leben also in der Türkei.