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Politik

„Erdoğan auszuladen würde die Kluft zwischen seinen Gegnern und Anhängern vertiefen“

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Der Nahost-Experte Udo Steinbach ist der Meinung, dass der Köln-Rede von Erdoğan keine große Bedeutung zugemessen werden solle. Im Interview mit DTJ spricht er über Erdoğan und dessen Wandel. (Foto: reuters)

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Der türkische Ministerpräsident genießt in weiten Teilen der Bevölkerung weiterhin ein großes Ansehen.
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Trotz der Korruptionsaffäre ist der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan am 30.März 2014 als Wahlsieger aus den wichtigen Kommunalwahlen in der Türkei hervorgegangen. Vor den Wahlen hat Erdoğan mit Eingriffen in die Justiz, Zwangsversetzungen von mehr als 10 000 Sicherheitsbeamten, dem Verbot von Twitter und Youtube und schließlich wegen der Verfolgung der Hizmet-Bewegung die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf sich und die Türkei gezogen.

Die kritische Ankara-Rede des deutschen Präsidenten Joachim Gauck vor einigen Wochen und die bevorstehende zweite Köln-Arena-Rede von Erdoğan am Samstag sind weitere Ereignisse über die in der deutschen und türkischen Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird.

Im Interview mit DTJ erklärt Udo Steinbach, Nahost-Experte und Leiter des Governance Center Middle East an der Humboldt-Viadrina, dass sich die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) von einer Volks- zur Staatspartei entwickelt und sich parallel dazu auch der Politikstil von Erdoğan gewandelt hat.

Seit Tagen diskutieren deutsche Medien und Politiker darüber, ob der türkische Ministerpräsident seine Wahl-Rede in der Köln-Arena halten soll oder nicht. Soll er sie halten?

Die Diskussion darüber, ob Erdoğan in Deutschland auftreten und eine Rede halten soll oder nicht, ist überflüssig. Dies nicht nur, weil ja Bundespräsident Joachim Gauck in der Türkei eine kritische Rede gehalten hat; sondern auch, da die Rede Erdoğans nichts Weltbewegendes bewirken wird.

Wieso nicht? Er will doch um deutschtürkische Stimmen werben, die für seine Wahl zum Präsidenten entscheidend sein könnten?

Diejenigen, die ihn bewundern – und das ist nicht die Mehrheit der Deutschtürken – werden hingehen; die, die ihn nicht mögen, werden demonstrieren. Versuche, den Ministerpräsidenten „auszuladen“, sind eher geeignet, die Kluft zwischen Gegnern und Anhängern hierzulande zu vertiefen. Auch würden sich die Anhänger Erdoğans – gegen die Spielregeln der Demokratie – ausgegrenzt fühlen.

„Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei haben in den letzten Jahren eine starke Dynamik erhalten“

Was sagt die ganze Debatte über den Zustand der deutsch-türkischen Beziehungen aus?

Selbst wenn man der Politik des türkischen Ministerpräsidenten kritisch gegenüber steht, zeigt die Tatsache, dass die Spitzenpolitiker beider Länder im jeweils anderen Land auftreten können und die seitdem laufende Debatte, wie nah beide Länder gerückt sind. Tatsächlich haben die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei in den letzten Jahren insbesondere auf der Ebene der Gesellschaft und der Wirtschaft eine starke Dynamik erhalten.

Warum wirkt sich diese Dynamik nicht auf die Politik aus?

Weil die Potentiale leider noch nicht wirklich erkannt und gewürdigt werden. Es ist politisch kurzsichtig, wenn man „die Türkei“ und „die Türken“ für die Fehlleistungen des Ministerpräsidenten in Haftung nimmt. Die Beziehungen haben sich geradezu trotz der politischen Kurzsichtigkeit auf beiden Seiten fortentwickelt: Weder haben die diversen Auftritte von Erdoğan in Deutschland noch die negative Einstellung politischer Kreise hierzulande an der Türkei dieser Dynamik und der Beitrittsperspektive des Landes zur EU einen Abbruch tun können.

Kommen wir zu den Entwicklungen in der Türkei. Sie beobachten das Land seit über 40 Jahren. Was ist seit den Gezi-Ereignissen los?

Wir sehen einen Ministerpräsidenten, der in zunehmendem Maße autokratisch regiert und reagiert. Diesen neuen Regierungsstil findet ein wichtiger Teil der türkischen Bevölkerung, insbesondere die Jugend in den Städten, nicht richtig und sucht nach Wegen ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Daraufhin reagiert der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan noch autokratischer, erfindet neue geheimnisvolle Feinde im In- und Ausland, zu denen auch die Person in Pennsylvania gehört.

Wo bleibt der selbstkritische Blick auf die eigene Politik?

Der fehlt gänzlich. Die Ursache der Krise wird nicht im Inneren gesucht, also im eigenen politischen Handeln oder in gesellschaftlichen Missständen, sondern mit Hilfe von Verschwörungstheorien im Ausland begründet. Berechtigte Schritte der Justiz in Sachen Korruption erwidert Erdoğan seinerseits mit Zwangsversetzungen von Beamten und Eingriffen in die Justiz.

„Erdoğan geht genau gegen die Kräfte vor, zu deren Stärkung er mit seiner Politik beigetragen hat“

Steht diese neue „erdoğansche“ Politik nicht im Widerspruch zur Gründungsphilosophie der AKP?

Natürlich. Erdoğan selbst hat doch dazu beigetragen, dass die türkische Gesellschaft liberalisiert und pluralisiert wurde. Jetzt geht er genau gegen die Kräfte vor, zu deren Stärkung er mit seiner Politik beigetragen hat. Dieser Wandel in der Regierung kommt überraschend.

Wieso? Die Türkei erlebt doch periodisch Systemkrisen. 1960, 1971, 1980 und zuletzt 1997 war das der Fall.

Der Vergleich des Wandels in der Regierung mit Systemkrisen aus der Vergangenheit hilft nicht weiter, weil die Rahmenbedingungen andere sind. Die Entwicklungen bis zum Jahr 2000, also die Krisen in den 60er und 70er Jahren und der Militärputsch von 1980, waren teilweise auch durch den Ost-West-Konflikt bedingt. Das Jahr 2002 steht jedoch für einen Neuanfang. Es sah eigentlich auch lange so aus, als ob dieser Neuanfang demokratisch, stabil und nachhaltig sein wird.

Woran machen Sie diesen Neuanfang fest?

Eine der Komponenten des Neuanfangs war eine wirkliche Öffnung der Türkei zur Europäischen Union. Bis Ende der 1990er Jahre war das Bekenntnis zu Europa eher ein Lippenbekenntnis, während ab 2003 tiefgreifende Reformen durchgeführt worden sind. Mit der Begründung, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen, hat sich die Türkei unumkehrbar auf den Weg nach Europa gemacht.

… und jetzt?

Seit 2011 erleben wir einen Rückstand. Dass dieser Weg nach Europa abgebrochen zu sein scheint und dieses mit einem autoritären Regierungsstil einhergeht, kommt für mich überraschend. Dass man sich nicht an Europa orientiert, hat zur Folge, dass auch der Demokratisierungsprozess im Inneren stockt.

Wie wirkt sich der neue autoritäre Regierungsstil auf die Gewaltenteilung aus?

Verheerend. Die Türkei hatte auch in den früheren Jahren der Erdoğan-Regierung rechtsstaatliche Mängel, weil das Land immer noch mit der Militärverfassung aus den 1980er-Jahren regiert wird. In ihren Fortschrittsberichten hat die EU sowohl Fortschritte gewürdigt, aber auch genau auf diese Mängel hingewiesen.

„Das Verfassungsgericht war 2010 modernisiert und demokratisiert worden. Und jetzt möchte Erdoğan es wieder dem Staat und insbesondere seiner eigenen Politik unterwerfen“

Was sind die Mängel?

Die Liste der Mängel ändert sich seit Jahren nicht: Medienfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung stehen ganz oben. Nun erleben wir geradezu eine dramatische Aushebelung von Rechtsstaatlichkeit mit autokratischen Maßnahmen. Die Regierung geht gegen die Justiz vor, giftet gegen das Verfassungsgericht und der Geheimdienst bekommt einen Freibrief. All das sind Schritte in die falsche Richtung. Das Verfassungsgericht war mit dem Referendum von 2010 modernisiert und demokratisiert worden. Und jetzt zielt Erdoğan auf dieses Gericht ab und möchte es wieder dem Staat und insbesondere seiner eigenen Politik unterwerfen. Stimmen, die sagen, dass durch das neue MIT-Gesetz die Türkei zu einem „Muhabarat-Staat“ nach syrischem Modell werden könnte, sind nicht ganz unberechtigt.

Und die EU schaut sich diese Entwicklung staunend aus der Ferne an.

Es ist richtig, dass beide Seiten in den letzten Jahren einander den Rücken gekehrt haben. Die EU darf die Türkei jedoch nicht abschreiben.

Die EU hat doch andere Sorgen. Und ihr Einfluss auf die Türkei ist nicht mehr so groß wie vor 15 Jahren.

Man hat in den letzten Jahren nebeneinander her gelebt. Erdoğan ist seinen Weg gegangen, die Europäische Union war mit ihrer Krise beschäftigt und jetzt stellen wir fest, dass hier doch eine beträchtliche Kluft entstanden ist. Mein Rat wäre, dass die Europäische Union und die Türkei die Beziehungen neu bewerten. Die EU sollte offensiv vorgehen und Erdoğan mit der Öffnung weiterer Kapitel konfrontieren. Aus Brüssel muss jetzt die Botschaft kommen: „Wir sind bereit weiterzumachen.“

Sie hatten in einem Interview nach den Gezi-Ereignissen Erdoğan mit Muammar Gaddafi verglichen. Wieso?

Ich weiß natürlich, dass die Türkei nicht Libyen ist und Erdoğan nicht gleich Gaddafi. Erdoğan ist ein Politiker-Typ, der alles auf seine Person bezieht. Es geht um ihn und seine Macht. Vielmehr gleichen sich beide Politiker jedoch in ihrem Verhalten gegenüber der Opposition. Ich habe Erdoğan mit Gaddafi verglichen, weil Gaddafi seine Opposition als Kakerlaken bezeichnet hat. Wenn Erdoğan von seinen Gegnern spricht, heißt es dann ähnlich mal „Plünderer“, mal „Blutegel“, mal „Vaterlandsverräter“. Diese Beispiele zeigen, dass er keinerlei Interesse mehr an der Gesellschaft und ihren Problemen hat, sondern die Menschen eigentlich nur noch als Basis für die Legitimation und Festigung seiner eigenen Macht betrachtet. Nach dem Wahlerfolg vom Juni 2011 hat Erdoğan sich von dem kooperativen Regierungsstil abgewandt und betrachtet Demokratie nur noch unter dem Aspekt des Machterhalts. Es zählen für ihn nur diejenigen, die auf seiner Seite sind. Diejenigen, die nicht auf seiner Seite sind, werden verteufelt und dem Reich des Bösen zugeordnet.

„Ein Ergebnis unter 35% hätte dazu geführt, dass auch in der eigenen Partei der Widerstand größer geworden wäre

Wir haben in der türkischen Politik sehr oft das Phänomen, dass gerade konservative Parteien in der Peripherie stark werden und sich verändern, wenn sie im Zentrum der Macht angekommen sind. DP, ANAP und DYP sind Beispiele hierfür. Beobachten Sie eine ähnliche Entwicklung auch bei der AKP?

Wir erleben in diesem Fall sowohl bei der AKP eine Entwicklung weg vom Volk hin zum Staat, als auch bei Erdoğan selbst. Er wird immer stärker zur Verkörperung des Staates. Aus einer Volkspartei ist eine Staatspartei geworden. Das ist auch der eigentliche Grund, warum er aus den Kommunalwahlen tatsächlich am Ende ein nationales Referendum gemacht hat. Er weiß, dass wenn erst einmal der Prozess des Abbröckelns innerhalb der Partei beginnt, die Partei zerfallen kann. Und ein Ergebnis unter 35% hätte tatsächlich dazu geführt, dass auch in der eigenen Partei der Widerstand größer geworden wäre. Vor diesem Hintergrund hat er sich selbst in die Mitte gestellt, in die Mitte des Staates, in die Mitte der Partei, in die Mitte des Volkes und in die Mitte der Religion. Er steht für alles. Die Religion spielt für die Gewinnung der Landbevölkerung eine wichtige Rolle. Mit dem Erfolg bei den Kommunalwahlen ist es ihm gelungen, den Niedergang der Partei zu verhindern.

Hat die AKP ihren Höhepunkt mit 58% bei dem Referendum 2010 und den fast 50 bei den Parlamentswahlen nicht bereits hinter sich?

So sicher bin ich mir da nicht. Vor fünf Jahren hat sie bei den Kommunalwahlen 38% bekommen, jetzt über 43%. Das ist ein Anstieg von 5 %. Es gelingt Erdoğan unerwartet gut, Potentiale in der Wahlphase zu mobilisieren, die entscheidend für das Ergebnis sind: national-religiöse Rhetorik unterstützt mit ökonomischen Erfolgen, die für den Wähler eine gewaltige Rolle spielen. Der türkischen Mittelschicht geht es ja gut. Die Unterschicht gewinnt er über staatliche Hilfen. Nachdem er bei den Kommunalwahlen diese Strategie erfolgreich eingesetzt hat, wird er alles daran setzen, den nächsten Schritt folgen zu lassen. Und der nächste Schritt wird sein, Präsident zu werden.

Nach welchen moralischen Maximen handelt Erdoğan?

Er gibt sich als Demokrat und als ein religiöser Mensch.

Korruption entspricht ja aber weder der Religion, noch der Demokratie.

Es ist eine heuchlerische Politik, die viele Türken auch durchschaut haben. Nach außen hin wird eine konservativ-islamische Weltanschauung zur Schau gestellt, im Kern aber findet eine Ökonomisierung der Gesellschaft statt. Auch die Hintergründe des Grubenunglücks von Soma weisen in diese Richtung. Solange alle Beteiligten daran gewinnen, läuft das Spiel weiter. Die Korruptionsaffäre hat genau dieses Wechselspiel von Religion und Demokratie auf der einen Seite, Ökonomisierung aller Lebensbereiche auf der anderen Seite offengelegt. Werte, auf die Erdoğan seine Politik seit über 10 Jahren stützt, und sein durch die Affäre an die Öffentlichkeit gelangtes „zweites Gesicht“ bilden einen Gegensatz. Je stärker dieser Gegensatz von der Öffentlichkeit durchschaut wird, wird Erdoğan entzaubert werden. Und alle werden sehen, dass seine Rhetorik von Islam und Demokratie ein gewaltiges Vertuschungsmanöver gewesen ist, hinter dem sich kalte Macht- und ökonomisch motivierte Interessenspolitik verbergen.