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Politik

Türkei: „Defekte“ Demokratie ist strukturbedingt

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Die Türkei durchlebt gerade eine der größten innenpolitischen Krisen und einen der schwersten Korruptionsskandale in ihrer Geschichte. Um die komplexen Ereignisse zu verstehen, muss man die politische Kultur des Landes kennen. (Foto: reuters)

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Um die Ereignisse in der Türkei zu verstehen, muss man deren politische Kultur bzw. das Staatsverständnis in der „defekten“ Demokratie Türkei kennen.
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Die Türkei durchlebt gerade eine der größten innenpolitischen Krisen und einen der schwersten Korruptionsskandale in ihrer Geschichte. Um die komplexen Ereignisse zu verstehen, muss man die politische Kultur des Landes bzw. das Staats- und Politikverständnis in der „defekten“ Demokratie Türkei verstehen. In diesem Zusammenhang ist die gegenwärtige Krise interessanterweise nicht allein Akteurs-bedingt, sondern auch strukturbedingt. In der Türkei gibt es keine liberal-demokratische politische Kultur im Sinne eines Polyarchie-Verständnisses von Robert Dahl, sondern eine osmanisch-kemalistische politische Kultur, in welchem die relevanten Akteure – also Politik und Gesellschaft – sozialisiert wurden.

So betont das kemalistische Verständnis von Republikanismus nicht etwa die Relevanz der res publica, des Gemeinwesens, sondern die übergeordnete Stellung der Staatssouveränität und ihrer Organe gegenüber der Volkssouveränität. Hieraus resultiert der omnipräsente Charakter des Staates, des „devlet baba“, gegenüber seinen als weitgehend unmündig angesehenen Bürgern. Ausdruck eines solchen Staats- und Politikverständnisses sind nicht nur ein ausgeprägter Zentralismus sowie Personenkult, der bisweilen als wichtiger erachtet wird als Parteiprogramme, sondern auch das paternalistische Verhalten der Exekutive gegenüber dem Volk. Das Verhalten von Premierminister Erdoğan bei den Ereignissen um den Gezi-Park, als er den Protestierenden ihre Mündigkeit und Intelligenz absprach, sind Beispiele für diese problematische Struktur-bedingte Sozialisierung.

Nationalismus als Garant für territoriale Integrität

Weitere Bestandteile der politischen Kultur der Türkei sind der starke (türkische) Nationalismus und das Sunnitentum, dem in einem säkularen politischen Regime ironischerweise die Rolle einer inoffiziellen Staatsreligion zukommt. Der Nationalismus und das Sunnitentum werden als identitätsstiftende Merkmale staatlich gefördert mit dem Ziel, alevitische und kurdische Emanzipationsbestrebungen zu unterbinden und zur gesellschaftspolitischen Homogenität und territorialen Integrität des Landes beizutragen. Doch auch die mangelnde Gewaltenteilung und die mit 10 Prozent europaweit höchste Wahlhürde – Letztere soll politische Stabilität zulasten einer größeren politischen Partizipation gewährleisten – sind hier aufzuzählen.

Doch ironischerweise hat keine andere Partei mehr von der 10-Prozent-Hürde profitiert als die nicht-kemalistische AKP. Bedingt auch durch einen Mangel an seriösen politischen Alternativen, konnte Erdoğans AKP in freien Wahlen drei Mal hintereinander die absolute Mehrheit der Stimmen holen; zuletzt 2011 mit fast 50 Prozent – ein Ergebnis, von dem viele europäische Parteien nur träumen können.

Die politische Performance der AKP war zunächst beeindruckend: Mit ihrer Reformpolitik konnte sie den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union (EU) erreichen. Durch ihre Wirtschaftspolitik konnte sie das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen in weniger als zehn Jahren verdreifachen. Darüber hinaus führte die Regierung Erdoğan eine gesetzliche Krankenversicherung ein, von der vor allem ärmere Bevölkerungsschichten profitieren.

Paradigmenwechsel im Bezug auf den Islam

Beflügelt durch den Erfolg der AKP-Regierung ist es zu einem interessanten Paradigmenwechsel in der Türkei gekommen: Unter Atatürk wurde der Islam als Modernisierungshindernis angesehen. Unter Erdoğans AKP jedoch fungiert der Islam – übrigens ganz in Einklang mit den Vorstellungen von Fethullah Gülen – selbstbewusst als Modernisierungsmotor, v.a. im Sinne einer sozio-ökonomischen Entwicklung (und weniger im Sinne einer kulturalistischen Verwestlichung).

Trotz ihrer Ein-Parteien-Dominanz sah sich die AKP jedoch nicht in der Lage, sich von der kemalistischen Staatsräson zu verabschieden, eine zivile Verfassung auszuarbeiten und dem Land eine liberal-demokratische Kultur zu verpassen. Demokratie und Demokratisierung werden weiterhin nicht als (universelle) Norm verstanden, um zum Beispiel Minderheiten wie den Aleviten oder Christen dieselben Rechte und Freiheiten wie der sunnitischen Stammwählerschaft bzw. Mehrheitsgesellschaft zuzugestehen, sondern als Instrument, um vorrangig eigene Präferenzen durchzusetzen. So ist es in den vergangenen Jahren zu einer intendierten Stärkung der sunnitischen Identität und Moralvorstellungen, die von Regierungsseite bisweilen auch eine bedenkliche private Deutungshoheit für sich reklamiert – man denke hier an Erdoğans Aussagen zum Alkoholkonsum oder der Freiheit von Frauen. Darüber hinaus ist es zu einer sukzessiven autoritären Regierungsführung gekommen, die – jenseits der Ereignisse um den Gezi-Park – zu einer besorgniserregenden Einschränkung der Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit geführt hat.

Das Beispiel der „defekten“ Demokratie Türkei zeigt anschaulich, dass auch moderat-islamistische Regierungsparteien – wenn sie selbst von bestimmten Defekten im politischen System profitieren können – bestrebt sind, ihre Macht zulasten einer Konsolidierung der Demokratie abzusichern. Im Ergebnis ist es in den vergangen Jahren zu einer Verfestigung der Demokratiedefekte in der Türkei gekommen.

Die Rolle der EU

Wie soll die EU mit der Krise in der Türkei umgehen, welche Relevanz hat sie überhaupt noch? Leider muss konstatiert werden, dass der EU-Reformprozess in den letzten Jahren de facto zum Erliegen gekommen ist, auch wenn letzten Herbst ein neues Beitrittskapitel eröffnet wurde. Die Hauptschuld für das langsame Vorankommen dürfte weniger in Ankaras Ablehnung bezüglich der Anerkennung Zyperns liegen, sondern mehr in der seit Jahren zu beobachtenden religiös-kulturalistischen Instrumentalisierung des Türkei-Beitritts durch vorrangig christdemokratisch-konservative Parteien und die Debatte um die „Privilegierte Partnerschaft“.

Gleichwohl sollte die EU aus strategischen Gründen heraus daran interessiert sein, die Türkei möglichst eng an sich zu binden. Hier gilt das Motto, lieber eine pro-demokratische und pro-westliche Türkei in der Europäischen Union zu haben als eine nicht-demokratische und anti-westliche Türkei außerhalb der EU. Brüssel verfügt über das Instrument der Erweiterungspolitik über die weltweit stärkste Konditionalitätspolitik. Um eine Verfestigung der Demokratiedefekte in der Türkei aufzubrechen und dem Land wieder mehr Stabilität zu verpassen, sollte die EU nicht nur die Beitrittsverhandlungen seriös und unpolitisiert fortsetzen, sondern auch diejenige politische Kraft in der Türkei unterstützen, die in der Lage ist, sich vom osmanisch-kemalistischen Staats- und Politikverständnis zu verabschieden, islamistischen Wert- und Moralvorstellungen entgegenzutreten und dem Land dauerhaft eine liberal-demokratische politische Kultur zu verpassen.

Autoreninfo: Dr. Bemal Karakas ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).