Kolumnen
Welche Türkei wollen wir haben?
Die Korruptionsfälle in der Türkei und das unglücklich wirkende Krisenmanagement Premierminister Erdoğans lösen einmal mehr den gewohnten deutschen Belehrungseifer aus. Das ist aber der denkbar schlechteste Weg.
Wenn ich in diesen Tagen mit meinen deutsch-türkischen Bekannten und Freunden spreche, spüre ich Besorgnis, Sorge über den Weg, den die Heimat von Eltern und Großeltern nimmt. Es ist wohl so: Die Demokratie in der Türkei ist in Gefahr.
Viele Beobachter, vor allem aufseiten der Mehrheitsgesellschaft, sehen sich in ihrem Urteil bestätigt: Die Regierung Erdoğan verhalte sich undemokratisch, sie mache Fehler über Fehler und müsse abtreten. Nicht ganz so weit gehen die regierungsnahen Verlautbarungen. Aber auch dort ist nach Bekanntwerden der Korruptionsfälle in türkischen Regierungskreisen sogleich tief in die Kiste mit gelben und roten Karten gegriffen worden: Nicht weniger als die EU-Kompetenz des Landes stehe nun auf dem Prüfstand, hieß es.
Natürlich muss es schwer fallen, irgendein entlastendes Argument zugunsten der amtierenden türkischen Regierung vorzubringen. Die Fehlleistungen des Premierministers, dem es erkennbar an der Fähigkeit mangelt, Zwischentöne wahrzunehmen, leise zu argumentieren, sind zu offenkundig. Aber es rächt sich in diesen dramatischen Wochen für die Türkei, dass wir in den öffentlichen Debatten versäumt haben, zwischen einer auf Zeit gewählten Regierung und einem Land zu unterscheiden. Das muss viele Menschen schmerzen, die sich für Deutschland entschieden haben und dennoch eine tiefe emotionale Bindung zur Türkei unterhalten.
„Wir sind die Guten“? – Nicht zwingend.
Die Wucht, mit der in diesen Tagen auf das Land an der Nahtstelle von geordneten Verhältnissen und Chaos eingeprügelt wird, muss den unbefangenen Beobachter zusammenzucken lassen. Gewiss, die Polizei in Istanbul war bei ihren Einsätzen auf dem Taksim-Platz im Frühjahr 2013 nicht immer zimperlich. Aber haben deutsche Regierungen jemals gegen überharte Polizeieinsätze protestiert, die es in Frankreich und in Großbritannien gibt? Wurde jemals die Forderung erhoben, den Tod junger Demonstranten aufzuklären, die bei außer Kontrolle geratenen Straßenschlachten ihr Leben verloren? Und: Wurden die erheblichen Korruptionsfälle in den politischen Klassen Frankreichs und Großbritanniens hierzulande ausreichend thematisiert? Es scheint, als gäbe es in solchen Angelegenheiten einen Doppelstandard, der den türkischen Realitäten, vor allem in den großen Städten des Landes, im Lichte ihres europäischen „Anforderungsprofils“ nicht gerecht wird.
Völlig außer Betracht bleibt, dass Europa dringender denn je die Türkei als Stabilitätsanker in einer Weltgegend benötigt, die mehr und mehr aus den Fugen gerät. Die katastrophale Situation in Syrien, wo Assad die Überhand zu behalten scheint; die ungewisse Situation im Iran; Falludscha im Irak, siebzig Kilometer vor Bagdad, außer Kontrolle; Bombenanschläge im Libanon; Raketeneinschläge aus allen Richtungen in Israel; Unklarheit über die Zukunft Ägyptens und Libyens und nun sogar Anzeichen von Instabilität im Süden Russlands wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Winterspiele.
Endlich über den europäischen Tellerrand hinausblicken!
Warum bringen wir es nicht fertig, der Türkei und der Regierung Erdoğan bei aller Kritik auf anderen Gebieten zu bescheinigen, dass sie viel, sehr viel dafür tut, die humanitäre Katastrophe Syriens zu lindern, von der sich die westliche Welt abgewendet hat? Die Neujahransprache der deutschen Bundeskanzlerin war unter solchen Umständen ein unglaublicher Akt der Verdrängung. Die Welt jenseits der EU-Grenzen kam in ihrer Rede gar nicht erst vor. Kann sich die größte Wirtschaftsmacht des Kontinents eine solche Ausblendung leisten? Kann ihre Regierung es wagen, ihren Bürgern ein derartiges Gefühl trügerischer Sicherheit zu vermitteln?
Die Realität wird stärker sein, und viel spricht dafür, dass die politische Agenda am Ende dieses Jahres ganz andere Inhalte haben wird, als uns zurzeit vermittelt wird. Dazu gehört auch die Aussage, dass wir die Türkei brauchen, dass Europa sehr rasch in eine kritische Lage geraten würde, sollte die Türkei instabil werden wie große Teile ihres Umfeldes. Das heißt nicht, die amtierende Regierung um nahezu jeden Preis aufzuwerten, über ihre Fehler und Sünden hinwegzusehen. Staatskunst ist nun gefragt. Sie könnte zur Folge haben, dass in unserem wichtigen Partnerland Einsichten wachsen, dass man auf uns hört. Übergroße Lautstärke ist auch ein Indiz für Unsicherheit, für Isolation, vielleicht sogar ein Hilferuf.