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Politik

Vorgestern Kommunisten, gestern Reaktionisten, heute Fethullahcıs

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Was im Kalten Krieg der „Kommunist“, in der Zeit des 28. Februars der „Reaktionist“ und zwischendurch immer wieder der „Separatist“ war, ist für Erdoğan heute der „Gülen-Anhänger“. (Foto: zaman)

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Der Journalist Hasan Cemal
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Immerhin haben die neuen Eliten der AKP das Handbuch der Angstpropaganda gründlich studiert. Denn auch sie wissen nun, wie man ein Feindbild so aufbaut, dass auch wirklich garantiert weite Teile der Bevölkerung alleine schon bei dessen Erwähnung vollständig den kritischen Verstand ad acta legen.

Der „Reaktionist“ des 28. Februars wird heutzutage durch die „Cemaatçi“ (deutsch: Anhänger der Gemeinde; hier: Hizmet-Bewegung) ersetzt. So, wie zu den Zeiten des Kalten Krieges mit dem Kommunismus und während der Ära des 28. Februar mit dem Gespenst des „Reaktionismus“ (türk. Irtica – eine politische Kategorisierung in der Türkei, womit früher die kemalistische Elite alle muslimischen Gruppen unterstellte, die alte religiös-osmanische Ordnung wiederherstellen zu wollen) Menschen Furcht eingeflößt wurde, um sie so dazu zu bringen, Einschränkungen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit hinzunehmen, wird heutzutage mit dem Begriff „Gülen-Anhänger“ der Andersdenkende dämonisiert und auf diese Weise die Lunte an Demokratie und Rechtsstaat gelegt.

Gleichwie die antikommunistischen Führer während des Kalten Krieges jeden, den sie für einen Kommunisten oder deren Sympathisanten hielten, stellt auch Erdoğan die Anhänger der Gemeinde als die Quelle jeglicher Art des Bösen dar. Und er ist dabei nicht einmal in der Lage, einfachste Fragen zu beantworten: Ist es denn eine Straftat, für den Staat zu arbeiten und gleichzeitig der Bewegung gegenüber eine Nähe zu empfinden? Wie und auf Grund welcher Richtlinien werden die Mitglieder der Gemeinde innerhalb des Staates überhaupt klassifiziert und ihrer Posten beraubt?

Ich kann mich noch gut an das Jahr 2005 erinnert. Mein Buch, „Ich hatte die Republik sehr geliebt“ war noch nicht lange auf dem Markt und schon wurden die Medien darauf aufmerksam. Die Zeitung Cumhuriyet hatte eine heftige Gegenkampagne gestartet. Der mittlerweile verstorbene Ilhan Selçuk sprach von einer „Fethullah-Operation gegen die Republik“. Ich reagierte nicht darauf. Immerhin hatte es ja auch Zeiten gegeben, in denen unter jedem Stein ein Kommunist gesucht wurde.

Kommunismus-, Separatismus- und Reaktionismusvorwürfe sind out

Während des Kalten Krieges bedeutete es beinahe einen Weltuntergang, als Kommunist beschuldigt zu werden. Dies war einer der wirksamsten Wege, jemanden zu beschuldigen und zu diffamieren. Gelegentlich entdeckte, tatsächliche oder vermeintliche „kommunistische Verschwörungen“ boten  jedes Mal die ideale Steilvorlage für Forderungen in Richtung Demokratieabbau und auf diese Weise stärkte sich das militärische Vormundschaftssystem stets selbst ein wenig mehr. In der Zeit des Kalten Krieges gab es neben dem Kommunismus aber noch zwei andere Keulen zur sicheren Vernichtung jedes politischen Gegners: nämlich die Vorwürfe des Separatismus und des Reaktionismus.

Sobald die Rede von der Zersplitterung und Auflösung der Türkei war, empfahl es sich wärmstens, tunlichst keine Einwände mehr vorzubringen. Diese Formen des Rigorismus wirkten Wunder, wenn es darum ging, wieder einmal Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in die Knie zu zwingen. Und auch sobald die Begriffe „Reaktionismus“ oder „Reaktionist“ fielen und die Bilder von Kappen, Gebetsketten, schwarz- und vollbärtigen Männern die Schlagzeilen erreichten, stand fest, dass Pläne vorbereitet wurden, welche die Flügel der Demokratie noch zusätzlich ein wenig stärker brechen würden.

Die „Cemaat-Verschwörung“ als neues Schreckgespenst

Heutzutage sind weder der Kommunist noch der Separatist auch nur annähernd so furchteinflößend wie damals. Der Staat befindet sich mittlerweile sogar in Verhandlung mit dem „Anführer der Separatisten“. Entsprechend ist momentan eine ganz andere Beschuldigung äußerst gefragt: „Gülen-Anhänger“. Die Rolle des „Reaktionisten“ aus der Zeit vom 28. Februar wird nun vom „Cemaat-Anhänger“ übernommen. In seinem am Samstag veröffentlichten Artikel wies Taha Akyol auf das Gesetzesdekret bezüglich der „Selektion der reaktionären Beamten“ hin, das auf Druck des Militärs eingeführt wurde. Unter fast jedem Stein werden heute, vor allem innerhalb der Staatsorgane, die Fingerabdrücke angeblicher „Gülen-Anhänger“ gesucht.

In einem Ausmaß, wie wir es noch nicht einmal aus der Ära der Militärputsche kennen, wurden willkürlich Polizeibeamte und andere Sicherheitskräfte ihrer Ämter enthoben. Genau wie die antikommunistischen Führer während der Zeit des Kalten Krieges jeden Gegner als Kommunisten stigmatisieren wollten, beschuldigt Tayyip Erdoğan heute die Cemaat-Anhänger als die Quelle allen Übels. Er macht ihnen Vorwürfe, „Putschisten“ zu sein, die „Gründung eines Staates im Staat“ und die „Erschaffung einer Organisation innerhalb des Staates“ vollzogen zu haben, er unterstellt ihnen den „Aufbau eines Parallelstaates“. Es wäre von Vorteil, hierzu Beweise präsentieren zu können.

Was ist nun an den Vorwürfen tatsächlich dran? Gibt es keine Menschen, die als Staatsanwälte, Richter, Soldat, Gouverneur oder Bürgermeister arbeiten, doch gleichzeitig Mitglied der Gemeinde sind, bzw. der Gemeinde gegenüber Sympathie empfinden?

Natürlich gibt es solche Menschen.

Ist dies ein Verbrechen? Nein, ist es nicht.

Bestrafung wegen Überzeugung ist undemokratisch

Menschen können nicht aufgrund ihres Glaubens, ihrer Gedanken, ihrer Identität und Hautfarbe irgendwelcher Untaten oder schlechter Gesinnungen beschuldigt werden. Sie können keiner Diskriminierung unterstellt werden. Doch würden diese Menschen, sagen wir mal, in fehlerhafter Interpretation ihres Glaubens Angelegenheiten des Staates pflichtwidrig erledigen oder sabotieren, dann würden sie von der Justiz verurteilt.

Wenn ein Soldat nicht dem Befehl seines Kommandanten, sondern den Befehlen eines Gemeindeführers gehorcht; ein Polizist nicht entsprechend den Anweisungen seines Vorgesetzten, sondern dem Vorschlag der Gemeinde gemäß vorgeht oder ein Staatsanwalt nicht den Geboten des Gesetzes, sondern Befehlen der Gemeinde folgt, würde dies bedeuten, dass sie ein Verbrechen begehen. Dafür müssten sich vor Gericht verantworten.

Gibt es einen solchen Prozess? Nein, davon gehe ich nicht aus. So wie im Kalten Krieg der „Kommunismus“-Vorwurf und in der Phase des 28. Februar die „Reaktionismus“-Keule nur den Zweck erfüllten, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu untergraben, genau so wird heute mit der Diffamierung als „Gülen-Anhänger“ versucht, die Demokratie und das Recht zu schwächen.

Warum wurde die angebliche Unterwanderung jahrelang geduldet?

Neulich beschrieb Nuray Mert auf T24 die Problematik sehr gut, als sie fragte: „Wie soll die Bewegung überhaupt beseitigt werden? Indem den Mitgliedern, welche in staatlichen Einrichtungen arbeiten, gekündigt wird? Einer Person, die in einer Institution arbeitet, kann nur aufgrund gesetzlich dargelegter Gründe gekündigt werden und nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Bewegung. Wonach soll festgestellt werden, ob jemand Mitglied in der Bewegung ist und auf der Basis welches Gesetzes soll er beseitigt werden? Auf der Basis von Gerüchten über eine Unterwanderung?

So frage ich: Warum haben wir, trotz des laizistischen Staatsverständnisses und der Religions- und Gewissensfreiheit, jahrelang unter dem Namen „Kampf gegen Reaktionismus“ gegen Unterwanderung und willkürliche Versetzung gleichermaßen gekämpft? Ehrlich gesagt, habe ich dagegen gekämpft und ich gehe davon aus, etwas Richtiges gemacht zu haben. In einer Demokratie kann sich jeder der einen Bewegung oder der anderen Gruppe anschließen oder ihnen gegenüber Sympathie empfinden, doch allein aufgrund dessen kann niemand einer niederträchtigen Gesinnung oder Absicht beschuldigt werden. Ist die „Gülen-Bewegung“ denn die einzige Gemeinde, welche in die Politik verwickelt ist?

Werden in Zukunft auch andere Bewegungen bekämpft? Wenn ja, nach welchem Prinzip? Man kann die Staatsanwälte, welche Mitglied der Bewegung sind, nicht ihrer Zugehörigkeit wegen irgendwelcher Pflichtverletzungen beschuldigen, sondern nur auf der Basis der Antwort auf die Frage, ob sie die ihnen übertragenen Rechtsangelegenheiten in pflichtgemäßer Weise bearbeitet haben oder nicht. Das ist die zivilisierte und demokratische Art und Weise, dieses Thema anzugehen, andernfalls würde der Fall mit der Logik des „Kampfes gegen Reaktionismus“ enden. Dass unter diesen Umständen, abgesehen von den Regierungssprechern, sogar sich Intellektuell nennende Menschen, in solch einem Unsinn eine Rettung sehen, ist lächerlich.“

Diesen Aussagen Nuray Merts kann ich nur beipflichten.

Hier geht’s zum türkischen Originalartikel.

Autoreninfo: Hasan Cemal (Foto) begann seine journalistische Karriere 1969 in der wöchentlichen Zeitschrift Devrim. Zwischen 1981 und 1992 war er Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet. Später landete er über die Zwischenstation Sabah bei Milliyet, für die er von 1998-2013 tätig war. Ein Erdoğan-kritischer Artikel führte zu seiner Kündigung. Seitdem schreibt er für T24.