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Politik

Dershane-Schließung wieder vom Tisch?

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Die Debatte um die Dershane spaltet die türkische Nation. Die privaten Nachhilfeeinrichtungen gehören zu den Stützen des aktuellen Bildungssystems. Nun scheint sich auf Grund der Kritik an den Schließungsplänen ein Umdenken anzudeuten. (Foto: zaman)

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Bülent Arinc - zaman
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Seit vergangener Woche sorgt ein Gesetzesentwurf, dem zufolge das türkische Bildungsministerium sämtliche Dershanes (private Nachhilfezentren) im Lande noch im laufenden Schuljahr schließen möchte, für eine aufgeheizte Debatte.

Der zuständige Bildungsminister Nabi Avcı dementierte zwar zunächst einen derartigen Entwurf, gab jedoch kurze Zeit später in einer Live-Übertragung nähere Informationen dazu. Besorgte Schüler, Eltern, Lehrer, Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben nun am Wochenende durch eine 36-stündige Twitter-Aktion mit ihrem Hashtag internationales Interesse erlangt. Der Gesetzesentwurf zur Schließung der Dershanes wird von den Betroffenen als „Großer Schlag gegen die Bildung“ bezeichnet.

Das Bildungsministerium argumentiert, die Dershanes würden aufgrund der von ihnen verlangten hohen Gebühren lediglich von der wohlhabenden Schicht genutzt werden können, wodurch eine Bildungsungleichheit entstehe. Dieses Argument verliert jedoch dadurch an Gewicht, dass der Gesetzesentwurf auch eine Klausel enthält, welche vorsieht, auch die kostenfreien Studienzentren im Land zu schließen. Darüber hinaus gibt eine Studie von SETA (Siyaset, Ekonomi ve Toplum araştırmaları vakfı), die angibt, dass gerade Schüler aus Familien mit geringerem und mittlerem Einkommen diese Einrichtungen beanspruchen.

Die Dershanes hatten bereits den Putsch vom 12. September 1980 überstanden, als das Militär deren Schließung angedroht hatte. Diese Zeit konnte auf Grund der energischen Unterstützung durch Turgut Özal überstanden werden. Auch infolge des Putsches vom 28. Februar 1997 war die Schließung immer wieder ein Thema. Während der AKP-Regierung kam der Schließungsvorschlag als erstes von Ömer Dinçer, der vor Avcı das Bidungsressort führte. Ministerpräsident Erdoğan schloss sich diesem Vorschlag an und bewilligte die Idee der Schließung.

Einer Umfrage des MAK-Meinungsforschungsinstitutes in der Türkei zufolge stimmen 70% der Befragten dem Gesetzesentwurf nicht zu. Auch Staatspräsident Abdullah Gül sagte vergangene Woche, dass die Schließung der Dershanes nicht das Problem löse, man müsste zunächst die Ursachen, die den Bedarf an Dershanes überhaupt notwendig machen, beheben. Auch Oppositionsvertreter wie CHP-Parteichef Kılıçdaroğlu bewerteten die Schließungspläne als „unklug“.

Gesetzesentwurf lässt viele Fragen offen

Der Gesetzesentwurf zur Schließung der Dershanes sollte über Nacht vorgestellt und verabschiedet werden. Mit der Einführung des Gesetzes sah man unter anderem eine Schließung sämtlicher Dershanes, aller kostenfreien Studienzentren und ein Verbot jeglicher Form der Nachhilfe im laufenden Schuljahr vor. Die astronomisch hohen Strafgebühren zwischen 500 000 und 1 Million Lira zeigen die Abschreckungsabsicht in dieser Angelegenheit. Auf Antrag sollten die Dershanes die Möglichkeit bekommen, innerhalb einer Frist von 3 Jahren ihre Einrichtung in eine Privatschule umzuwandeln.

Einrichtungen, die es in dieser ab Antragstellung laufenden Frist nicht bewerkstelligen, sich in solche umzuwandeln, würden geschlossen. Eine genauere Einschätzung der Dershanes lässt allerdings schnell klar werden, dass die wenigsten Einrichtungen diese Umstellung zur Privatschule schaffen könnten. In Zahlen gesprochen glaubt man, dass von den betroffenen 4000 Einrichtungen lediglich 263 die Kapazität und Mittel dazu hätten. Das Problem, dass bereits bei den derzeit existierenden Privatschulen nur 40% der Schülerkapazität ausgeschöpft werden kann, wird vom Bildungsministerium scheinbar nicht mit einkalkuliert.

Der Entwurf sah zudem vor, dass die Lehrkräfte, die durch die bevorstehende Schließung ihre Stelle verlieren würden – und man geht dabei von einer Zahl von 60000 Lehrern aus -, in den Lehrerbestand des Bildungsministeriums versetzt werden sollten. Die Lehrkräfte fühlen sich allerdings durch die vage Formulierung „Lehrkräfte, die den Kriterien entsprechen, werden mittels eines Aufnahmeverfahrens ins System integriert“ nicht ausreichend informiert, schon gar nicht abgesichert. Denn momentan warten 300 000 bereits ordnungsgemäß ausgebildet und qualifizierte Lehrkräfte auf eine Versetzung. Ebenso können Lehrkräfte über 40 nicht in den Lehrerbestand des Bildungsministeriums aufgenommen werden. Es bleiben hier zu viele Fragen offen, die für Unruhe und Verwirrung bei den Betroffenen sorgen.

Die Türkei ist ein Land mit einer besonders jungen Bevölkerung. Ein Drittel davon ist im Schulalter. Dieser Vorteil einer jungen Population kann nur mittels einer guten Bildung aufrecht bleiben und zum Vorteil umgemünzt werden. Aber besonders Schüler aus ländlichen Umgebungen kommen nicht in den Genuss dieser erforderlichen Bildung und sind folglich stark auf die Lernstützung durch die Dershanes angewiesen. Im Osten der Türkei sind viele Dorfschulen nicht adäquat besetzt, Lehrkräfte treten immer wieder ihre Posten aus Angst vor Terror und den mangelnden Sicherheitsvorkehrungen nicht an. Für diese Kinder sind Dershanes teilweise die einzige Möglichkeit, den prüfungsrelevanten Stoff zu erlernen. Laut OECD mangelt es in der Türkei derzeit an 213 000 Lehrkräften an Schulen – Zahlen, die in einem stark auf Prüfungen ausgerichteten Schulsystem die Zukunft Tausender Schüler Jahr für Jahr unsicherer macht.

Aufruf Fethullah Gülens zur Mäßigung und Bewahrung der Ruhe

Der Gesetzesentwurf zur Schließung der Dershanes hat die türkische Nation regelrecht gespalten. Besonders in Sozialen Medien kam es zu heftigen Debatten und Auseinandersetzungen. Man konnte eine Polarisierung der Debatte zwischen AKP-Anhängern und Entwurfsbefürwortern auf der einen und Anhängern der Hizmet-Bewegung, die einen Großteil der Dershanes betreiben, auf der anderen Seite feststellen. Es wurden Mutmaßungen aufgestellt, wonach Erdoğan sich durch die Bewegung in seiner Macht gefährdet sähe und sie deshalb ausschalten möchte. Andere wiederum gingen von einem geheimen Abkommen der AKP mit der PKK aus.

Die PKK verkündete in vergangener Zeit des Öfteren, dass sie aufgrund der Aktivitäten der Hizmet-Bewegung Schwierigkeiten hätte, neue Anhänger zu finden, da fast alle Jugendliche dank der Dershanes ein Studium dem Terroristendasein vorziehen. Um die Friedensverhandlungen fortführen zu können, hätte, so wurde behauptet, die PKK der Regierung die Schließung der Dershanes abverlangt.

Fethullah Gülen, von dessen Ideen die Hizmet-Bewegung inspiriert ist, äußerte in der vergangenen Woche sein Bedauern über die Entwicklungen und bat die Menschen darum, Ruhe zu bewahren.

Kabinett rudert zurück

Wie es aussieht, scheint der öffentliche Druck mittlerweile Früchte zu tragen. Am gestrigen Montag kündigte der stellvertretende Premierminister Bülent Arınç (Foto) nach einer Kabinettssitzung an, in umfangreichen Verhandlungen mit allen Beteiligten die Angelegenheit noch einmal zu erörtern, bevor ein fertiger Gesetzesentwurf eingebracht werde.

Die Regierung werde Arınç zufolge die Schließungspläne noch einmal überdenken, wobei er die breite Unzufriedenheit in der Öffentlichkeit mit der geplanten Maßnahme erkennen ließ. Der öffentliche Unmut über die stetigen Änderungen im Bildungssystem während der letzten Jahre sei nachvollziehbar und diese Situation müsse einem Mehr an Berechenbarkeit weichen.

Arınç kündigte an, mit allen beteiligten Gruppen noch einmal reden zu wollen. Man sei sich der Realität der Dershane bewusst und wolle Schüler nicht zu Opfern machen.

Beobachter befürchten, dass eine Schließung der Nachhilfezentren die soziale Ungleichheit verstärken würde, weil das Gefälle der Lernerfolge unter den Schülern größer würde. Viele Eltern, die bereits durch die Kosten für die Dershanes belastet wären, würden sich Privatschulen erst recht nicht leisten können.