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Politik

„Es ist die Stärke und Schwäche der Türkei zugleich, dass sie sich schnell wandeln kann“

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Der namhafte FAZ-Türkeiexperte Dr. Rainer Hermann sieht die Türkei auf einem problematischen Weg. Die Politik Erdoğans habe sie in der Nachbarschaft isoliert und von Europa weggeführt. Er hält aber Überraschungen für denkbar. (Foto: dha)

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Der türkische Ministerpräsident hält eine türkische Nationalfahne in der Hand.
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„Zaman“ hat mit Dr. Rainer Hermann, dem Türkei- und Nahost-Experten der FAZ und Verfasser des Buches „Wohin geht die türkische Gesellschaft“, über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei gesprochen. In dem interessanten Gespräch ging es unter anderem um die Korruptionsermittlungen, die Kommunalwahlen und die Entwicklung der Türkei in den vergangenen Jahren.

Sie verfolgen schon seit vielen Jahren die Türkei und haben auch selber lange dort gelebt. Wohin entwickelt sich die Türkei?

Die Türkei befindet sich immer mehr neben der Spur. Im vergangenen Jahrzehnt gab es einige begrüßenswerte demokratische Reformen. Nun werden jedoch im Eiltempo Maßnahmen in Richtung eines autoritären Staates getroffen. Putins Russland erscheint der heutigen Situation der Türkei näher als die Europäische Union. Die Türkei ist sicherlich nicht am Ende ihres Entwicklungsweges. Sie ist ein Land voller Überraschungen. Falls die Gewaltenteilung aber nicht ausgebaut, die Kontrollmechanismen gegenüber dem Staat nicht früher oder später gestärkt werden und den Bürgern ihre zivilen Rechte verwehrt bleiben sollten, dann blicke ich pessimistisch in die Zukunft des Landes.

Wie erklären Sie das Eintreten dieser Fehlentwicklungen in der „Meisterphase“ seiner Amtszeit, wie Erdoğan selbst diese Wahlperiode bezeichnete?

In seiner ersten Amtsperiode hat Erdoğan die Türkei, die in den 90ern mehrere Krisen erlebt hatte, demokratisiert und ist somit unerwartet zum Reformer aufgestiegen. Er hat die politischen Rechte der Bürger erweitert, die Türkei aus dem Mittelmaß herausgeholt und ihr zum Aufstieg verholfen. Durch die von ihm verfolgte Außenpolitik gewann die Türkei viel an regionaler Soft Power. Nach der zweiten Wiederwahl im Jahre 2011 hat er sich aus zwei Gründen radikal verändert. Erstens hat er den erdrückenden Wahlerfolg von 50% als einen Blankoscheck für seine Pläne interpretiert, an deren Umsetzung er sich machte, ohne die Gefühle der Bevölkerung zu berücksichtigen. Zweitens hat er die Entwicklungen der Arabellion falsch gedeutet. Er hat mit der einseitigen Fixierung auf die Muslimbrüder alle Eier in einen Korb gelegt und dabei verloren. Das war kein Pech, sondern schlichtweg fehlerhafte Politik.

„Die Gefühle der Bevölkerung nicht berücksichtigt“… Was meinen Sie damit?

Die Sache um eine neue zivile Verfassung ist beispielsweise solch ein tragischer Fall. Im Jahre 2007 hat Prof. Dr. Ergün Özbudun einen Entwurf vorgelegt, der wohl dem Konsens aller Bevölkerungsgruppen entsprochen hätte. Diese neue zivile Verfassung sollte die Türkei noch mehr demokratisieren und liberalisieren. Doch leider war das politische Klima von 2007 diesem Ansinnen nicht besonders förderlich: Der Kampf mit der PKK hatte dramatische Ausmaße angenommen und außerdem hatte das Militär durch den versuchten E-Memorandums-Putsch das politische Klima vergiftet. Hätte sich dieser Verfassungsentwurf durchgesetzt, so hätte die Türkei nach 2011 keinen so autoritären Kurs eingeschlagen.

Wie bewerten Sie die Politik, die bezüglich der Rechte der Aleviten und Kurden verfolgt wird?

Die Regierung hat zwar einige Maßnahmen getroffen, um die Kurdenfrage zu lösen, sie hat sich dem Thema jedoch sehr militärisch angenähert. Dies erschwerte den Prozess und war auch immens kostenintensiv. Daraufhin hat sie versucht, die Probleme der Region durch einen religiös-brüderlichen Diskurs zu lösen. Auch dies scheiterte, da die kurdische Seite im Staat nicht jenen Bruder im Glauben erkennen konnte, den die Regierung zu sein versprach. So begann die Regierung, sich der Sache auf einer realpolitischen Basis zu nähern. Im dritten Versuch kam es zu einer verspäteten politischen Annäherung. Zwischen den Aleviten und der regierenden AKP besteht wiederum ein großes Misstrauen. Wär ich ein Alevit, so würde es mich traurig stimmen, dass die dritte Brücke über den Bosporus den Namen Yavuz Sultan Selim tragen soll. Auf solch sensible Themen sollte stärker geachtet werden.

Wie interpretieren Sie die Gezi-Proteste aus dem vergangenen Sommer?

Der politische Führer des Landes kann die Veränderungen in der türkischen Gesellschaft nicht mehr verfolgen. Im 21. Jahrhundert dürfen Sie sich einfach nicht mehr in das Leben der Bürger einmischen. Die Türken haben genug davon, dass ihnen der Premierminister vorzuschreiben versucht, was sie zu tun und zu lassen haben. Zum ersten Mal wächst in der Türkei eine Generation auf, die keinen Putsch erlebt hat und diese Jugendlichen wachsen mit Smartphones und Social Media auf. Diese Generation möchte ihren Platz in der modernen Welt einnehmen. Sie rebellieren gegen die Shopping-Mall-Politik der Regierung. Sie sind auf der Suche nach Werten, die sie bei einer Partei, die Fortschritt in Betoneinheiten misst, nicht finden können.

In der Türkei ist es gefährlich, ein kritischer Journalist zu sein

Aufgrund der Korruptionsermittlungen vom 17. Dezember wurden sehr viele Polizisten und Staatsanwälte strafversetzt oder gefeuert. Premierminister Erdoğan versucht sich von den Vorwürfen durch seinen Diskurs über vermeintliche  „Parallelstrukturen, Assassinen und Viren“ freizusprechen. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen?

Die AKP und die Hizmet-Bewegung hatten einander über Jahre hinweg gut ergänzt. Doch viele im Ausland haben es nicht verfolgen können, dass das Verhältnis schon seit Längerem bröckelt. Die AKP hatte schon vor zwei bis drei Jahren begonnen, der Hizmet-Bewegung nahestehenden Abgeordnete, Richter, Staatsanwälte etc. von ihren Posten zu entfernen. Anschließend hat die AKP-Regierung versucht, zahlungskräftige Investoren und Geschäftsleute der Bewegung unter den eigenen Einfluss zu bringen. Im Unterschied zu Erdoğan ist für Gülen die Demokratie kein Zug, auf den man auf- und abspringt. Diese Bewegung ist liberaler und aufgeschlossener. Sie ist eine Bewegung, die sich der globalen Welt angepasst hat.

Wie wird in demokratischen Staaten normalerweise mit Korruption umgegangen?

Zunächst einmal ist jeder unschuldig, solange nicht das Gegenteil bewiesen wird. In demokratischen Ländern ist die Justiz unabhängig. Nachdem die ermittelnden Staatsanwälte und Richter rasch strafversetzt wurden, gibt es kaum noch Gründe, an eine Unabhängigkeit der türkischen Justiz zu glauben. Jede Gesellschaft benötigt eine freie Presse, welche auf fehlerhaftes Verhalten des Staates hinweist. Es wird gesagt, dass die türkische Presse frei sei. Ich habe Zweifel daran. Außerdem treten Politiker, die in Korruption verwickelt sind oder gegen die solch starke Verdächtigungen vorliegen, normalerweise zurück.

Wie genau sehen Ihre Zweifel aus?

Es gibt große Unternehmer, die die Medien als ein Instrument ihrer Interessen sehen. Sie versuchen durch die Medien, die zu ihrem Unternehmen gehören, die öffentliche Diskussion in ihrem Interesse zu gestalten. Aus diesem Grund war die türkische Medienlandschaft schon immer problembehaftet. Denn die Medien sind kein Mittel, um durch regierungsloyale Berichterstattung an gewinnbringende Staatsaufträge zu erhalten. In der Türkei bewegen Sie sich als kritischer Journalist stets auf dünnem Eis. Sie müssen ständig um ihren Job fürchten.

Wie werden diese Probleme die künftige Entwicklung der Türkei Ihrer Meinung nach beeinflussen?

Falls sich die Türkei weiter in Richtung eines autoritären Staates entwickelt, so könnte es zu einer interessanten Freundschaft zwischen Putins Russland und Erdoğans Türkei kommen. Das wünsche ich der Türkei nicht. Mit dem Vorwand, die historische Macht des Landes wieder auferstehen zu lassen, verfolgt Erdoğan eine fehlerhafte Politik, die auch der Wirtschaft des Landes nachhaltig schaden könnte. Die Türkei ist von Europa weiter weg als von Russland.

Die AKP-Regierung ist zwar korrumpiert, aber immer noch stark

Die Türkei versucht seit Jahrzehnten, der EU beizutreten. Premierminister Erdoğan hat jedoch angedeutet, dass er auch den „Shanghai Five“ beitreten könnte. Was denken Sie über diese Pläne?

Erdoğan verfolgt eine Realpolitik. Er merkt, dass er von der EU abgewiesen wird und ist auf der Suche nach Alternativen. Sollte es Erdoğan mit seinen Shanghai Five-Plänen Ernst meinen, wäre das tragisch für die Türkei. Die Türkei würde ihre Chancen, ein Land über dem Mittelmaß zu sein, verspielen. Es ist einfach, von einem niedrigen Niveau das Mittelmaß zu erreichen. Es ist jedoch viel schwieriger, die Spitzengruppe zu erreichen. Um dies zu schaffen, braucht die Türkei starke Argumente für sich, beispielsweise gefestigte Institutionen, eine funktionierende Gewaltenteilung, zivile Freiheiten oder eine neue Verfassung.

Wie bewerten Sie die Politik der Türkei im Gesamtzusammenhang des Mittleren Ostens?

Die Türkei hat ihre Chance verspielt, eine regionale Gestaltungsmacht zu werden. Ihr Einfluss in der Region hat binnen kürzester Zeit abgenommen. Ankara hat immer noch einen gewissen Einfluss im Nordirak und außerdem wird zu Katar eine besondere Beziehung gepflegt. Die Zeit, in der die Türkei wirklich einflussreich in der Region war, ist aber bis auf weiteres vorbei. Das kann sich auch wieder ändern. Es ist die Stärke und Schwäche der Türkei zugleich, dass sie sich schnell wandeln kann. In den vergangenen Jahren haben wir durchaus erlebt, dass das Land schnell an Einfluss gewann. Diesen verlor es jedoch genauso schnell wieder. Ich hoffe, dass es in der Zukunft wieder aufwärts gehen wird.

Wie wird sich die türkische Politik nach den Kommunalwahlen nun entwickeln?

Für mich war das Ergebnis keine Überraschung. Ich habe ungefähr mit 40 bis 42 Prozent gerechnet. Um ehrlich zu sein, fühlen sich die Türken sicher in Erdoğans Hand. Verglichen mit Erdoğan wirken seine politischen Konkurrenten ziemlich schwach. Es gibt keine Partei, die mit Erdoğan und seiner AKP konkurrieren kann. Somit werden jegliche politischen Kontrollmechanismen ausgehebelt. Das politische System der Türkei lehrt uns vieles. Keine der Parteien schafft es, aus den Skandalen und des autoritären Stils Erdoğans Profit zu schlagen. Die Türken bevorzugen Erdoğan, der ihren Lebensstandard innerhalb der vergangenen zehn Jahre enorm gesteigert hat. Die AKP-Regierung ist zwar korrumpiert, aber immer noch sehr stark. Ich habe die Balkonrede Erdoğans mit Schrecken verfolgt. Er holt seine Stärke aus der Wahlurne und denkt, dass somit sämtliche seiner Handlungen legitimiert sind. Dies ist gewiss nicht förderlich für starke und unabhängige Institutionen und schadet dem demokratischen Prozess. Funktionierende Kontrollmechanismen sind jedoch unabdingbar für einen Staat. Daher denke ich, dass diese Unantastbarkeit, diese Stärke Erdoğans, die Schwäche der Türkei ist.