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Kolumnen

Danke, Erdoğan, für eine wichtige Erkenntnis!

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Viele befürchten, Erdoğan könnte seine Landsleute um die Demokratie ärmer machen – niemand sieht, dass er uns um eine Erfahrung reicher macht. Eine Erfahrung, die eine Voraussetzung für echte Demokratie ist. (Foto: iha)

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War alles eine Lebenslüge? Erleben wir zurzeit den Zusammenbruch eines jahrzehnte-, ja sogar jahrhundertelangen Fehlglaubens? Für mich spricht einiges dafür. Wie gerade in der Türkei Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan gemeinsam mit einigen seiner Getreuen auf die Korruptionsaffäre reagiert, sorgt für eine große Desillusionierung. Er sorgt auf diese Weise aber auch für ein Aufwachen aus dem Traum, wonach religiös motivierte Politiker die Besseren wären und das Land in eine gute, demokratische Zukunft führen werden.

Was ich meine? Gehen wir Schritt für Schritt vor. Betrachten wir erst mal den Glauben bzw. die Annahme, deren Entzauberung wir gerade erleben. Mag der Islam im Westen auch ein negatives Image haben, mag man hier mit dem Islam noch so Schlechtes assoziieren – in den Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit herrschte bislang eine andere Vorstellung. Man glaubte, die islamischen Länder wären deshalb so zurückgeblieben, weil ihre Eliten den eigenen Werten den Rücken gekehrt hätten und geistlos den Westen nachzuahmen versuchten.

Die große Desillusionierung

Man glaubte, weil sie im Glauben nicht gefestigt waren, hätten sie keine Hemmungen vor Korruption gehabt, und sie verhielten sich deshalb nicht unbedingt ethisch. Wenn aber erst einmal gläubige Politiker die Verantwortung trügen, würde alles besser werden. Sie würden nicht stehlen, keinem Unrecht tun, weil sie eben im Bewusstsein vor der Verantwortung vor Gott lebten. Für diesen Glauben sprach einiges: Unter den alten Eliten gab es tatsächlich Korruption; sie waren tatsächlich volksfern; es gab tatsächlich die real existierende Unterentwicklung.

Dann fuhren in der Türkei die alten Eliten das Land tatsächlich an die Wand. Das war Anfang der 2000er-Jahre. Die Neuen, auf welche große Hoffnungen gesetzt worden waren, bekamen in Form der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) eine Chance. Die Partei tat auch anfangs viel Gutes: Sie betonte, für alle Landsleute da zu sein, die Demokratie zu festigen. Sie führte Reformen durch, erntete Anerkennung, Aufnahmeverhandlungen mit der EU begannen, die Wirtschaft erholte sich. Die Unterstützung durch die Wähler stieg von Wahl zu Wahl.

Die Wandlung Erdoğans

Mit der Zeit wurde Erdoğan vom Übermut gepackt. Er wurde selbstherrlicher. So wie in der berühmten Fabel von George Orwell („Animal Farm“) wurde der Revolutionär den Abgesetzten immer ähnlicher. Mit dem Beginn der Ermittlungen wegen Korruption vom 17. Dezember 2013 zeigte er schließlich ein neues Gesicht. Es begann eine rasend schnelle Entwicklung, die sich für die Türkei als verhängnisvoll erweisen könnte. Anstatt die Ermittlungen zu unterstützen, das Ergebnis abzuwarten und die faulen Äpfel zu entfernen und so für Selbstreinigung zu sorgen, schlägt Erdogan einen anderen Weg ein.

Er deutet nunmehr seine Welt durch Verschwörungstheorien. Er beschuldigt im Inland die Hizmet-Bewegung, einen Staat im Staate zu bilden und im Ausland die USA, Israel, Europa, der Türkei ihren wirtschaftlichen Erfolg nicht zu gönnen und dem Land schädigen zu wollen. Hunderte Polizisten werden zwangsversetzt, die neuen Polizeipräsidenten führen Aufträge der Staatsanwälte einfach nicht mehr aus. Diejenigen, die es tun, werden hingegen umgehend abgesetzt. Ermittelnde Staatsanwälte werden von den Fällen entbunden.

Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan.

Tätige Nächstenliebe

Davon nicht genug: Die Regierung startet eine Justizreform, welche die Judikative praktisch der Exekutive, genauer gesagt dem Justizministerium, unterstellt. Würde diese Reform umgesetzt, wäre die Gewaltenteilung aufgehoben, die Unabhängigkeit der Justiz zur Farce werden. Warum macht Erdoğan das? Möglicherweise aus tätiger Nächstenliebe? Denn, ließe er die Ermittlungen zu, so hätten sie nach dem Stand der Dinge möglicherweise auch seine Familie getroffen. Eine Vorladung gegen seinen Sohn Bilal liegt vor, wird allerdings nicht vollstreckt.

Über die Motive Erdoğans könnte man viel spekulieren. Eines könnte man aber schon jetzt feststellen: So war das alles nicht gedacht! Man sieht mittlerweile, dass die Neuen es auch nicht besser machen, sie machen es sogar schlimmer. Sie sind bereit – möglicherweise um sich zu retten –, das Recht zu beugen und das Staatsgefüge aus dem Gleichgewicht zu bringen, indem sie die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz aufheben und somit im politischen Leben des Landes auf voraufklärerische Zeiten zusteuern.

Quelle des radikal Guten

Aus dem Ganzen schließe ich für mich: Die Religion mag beim Einzelnen die Motivation für vieles Gute liefern. Sie mag die Quelle für das „radikal Gute“ bilden. Trotzdem sind die Religiösen doch nicht automatisch die Besseren. Sie sind nicht gefeit vor Fehlern. Sie sind auch verführbar, vor Machtmissbrauch nicht sicher. Vielleicht manchmal sogar noch anfälliger, weil sie eine wichtige Quelle der Werte – die Religion – für ihre eigenen egoistischen Zwecke instrumentalisieren und dadurch entwerten.

Es braucht Regulierungen, die die Grundfreiheiten eines jeden Bürgers garantieren und den Machthabern eindeutige Grenzen setzen. Es braucht einen Staat, der für alle Bürger da ist, statt eines Staates, der seine Bürger nach seinem Ebenbilde schaffen möchte. Es braucht eine politische Kultur, in der sich die Bürger als Subjekte empfinden und nicht als ohnmächtige Objekte; eine politische Kultur, in der der Respekt vor dem Recht stärker ist als der eigene Egoismus.

Ohne dies ist auch jede Religion irgendwie nichts. Sie würde allerhöchstes als Instrument für Macht und Herrschaft in der diesseitigen, begrenzten Welt dienen. Im Jenseits, so lehrt uns ein wesentlicher Glaubenspfeiler im Islam, ginge man jedoch leer aus.

Und die Lehre aus dem Ganzen: Egal ob religiös oder nicht religiös; vor den Verführungen der Macht ist kein Mensch sicher. Dank Erdoğan wissen wir – Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Ist das keine wertvolle Erkenntnis?