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Politik

Erdoğan erfindet sich nach gewonnener Präsidentschaftswahl neu

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Mit einer moderaten Balkonrede ließ der künftige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, am Wahlabend aufhorchen. Ohne einen Strategiewechsel wird Erdoğan auch die nötigen Mehrheiten für ein Präsidialsystem wohl nicht bekommen. (Foto: zaman)

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Mit einer sehr moderaten Balkonrede ließ der am gestrigen Sonntag mit 51,8% der Stimmen auf Anhieb zum Staatspräsidenten gewählte Noch-Premierminister Recep Tayyip Erdoğan aufhorchen. In einer Ansprache, die inhaltlich fast spiegelverkehrt zu jener war, die er am 30. März nach dem Sieg seiner Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung; AKP) gehalten hatten, rief Erdoğan zur nationalen Versöhnung auf und gelobte, der Präsident aller 77 Millionen Türken zu sein – und auch der Präsident jener, die ihn nicht gewählt hätten.

„Auch diejenigen, die mich nicht gewählt haben, haben heute gewonnen“, betonte Erdoğan. Er sprach von einem „historischen Tag“ und von einer „Trophäennacht der Demokratie und des nationalen Willens“. Die gesamte Türkei habe gewonnen.

Die Wahlen würden, so Erdoğan, auch einen positiven Effekt auf das ganze Land und auf befreundete Länder haben, wobei er in diesem Zusammenhang explizit Gaza, Ramallah und Jerusalem erwähnte. „Heute beschließen wir eine Ära und treten in eine neue ein.“

Man habe sich nie ins persönliche Leben von Menschen eingemischt, betonte Erdoğan. „Diejenigen, die uns beschuldigt haben, diktatorisch geworden zu sein, mögen bitte alle aufrichtig in sich gehen“, mahnte der künftige Präsident der Türkei.

Für die „Parallelstruktur“ gilt das Versöhnungsangebot nicht

Für die „Parallelstruktur“, wie Erdoğan Kräfte nennt, die im Verdacht stehen, aus dem Inneren des Staatsapparates heraus die Regierung sabotiert zu haben und hinter welcher er Angehörige der Hizmet-Bewegung vermutet, die vom in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen inspiriert ist, gelte das Versöhnungsangebot hingegen nur bedingt.

„Wer auch immer unsere nationale Sicherheit gefährdet, wird uns zum Gegner haben“, betonte Erdoğan. Er rief die „Graswurzelaktivisten“ an der Basis der Hizmet-Bewegung dazu auf, sich von der „Bande des Verrats“ zu distanzieren, die sich an deren Spitze gebildet hätte. Auch die Gülen-Anhänger sollten, so Erdoğan, „eine neue Seite in der Neuen Türkei“ aufschlagen.

In den letzten Monaten hatte Erdoğan noch nicht so moderat geklungen. Noch am Abend der Kommunalwahlen stellte er seinen Gegnern eine kompromisslose Abrechnung in Aussicht und sprach später davon, notfalls gegen die Hizmet-Bewegung eine „Hexenjagd“ veranstalten zu wollen. In der Tat wurden im Laufe der letzten Wochen mehr als 100 Polizeibeamte festgenommen, die nach einem Bericht des Innenministeriums spioniert und die höchstpersönlichen Lebensbereiche von Menschen verletzt haben sollen.

Neue Rolle – neues Rollenverständnis

Auch mit harter Kritik an Israel, die ihm vielerorts den Vorwurf des Antisemitismus eingebracht hatte, sowie mit Aussagen über Armenier, die von zahlreichen Menschen im In- und Ausland als geschmacklos und rassistisch gewertet worden waren, hatte Erdoğan in den letzten Wochen für Schlagzeilen gesorgt.

Dass der Wahlkampf nun vorbei ist und Erdoğan als Staatspräsident der Türkei künftig eine Rolle ausüben wird, die als überparteilich verstanden wird und auch von den Machtbefugnissen her weniger gewichtig ist als jene des Premierministers, könnte durchaus einen Strategiewechsel angestoßen haben.

Sollte Erdoğan sein Ziel, mächtiger Präsident im Rahmen eines Präsidialsystems werden zu wollen, weiterverfolgen, müsste er sich nun mehr denn je darum bemühen, Mehrheiten für eine dafür erforderliche Verfassungsreform notfalls auch über die Parteigrenzen hinweg zu organisieren. Dies dürfte im Falle einer weiterhin auf Polarisierung und Zuspitzung setzenden Politik nicht möglich sein.