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Politik

Türkei: Breite Empörung über Freilassung von Ergenekon-Verurteilten

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Zu bestürzten Reaktionen in allen Parteien hat die Freilassung von Ergenekon-Verdächtigen und sonstigen mutmaßlichen Schwerkriminellen geführt, die auf der Basis eines neuen Justizgesetzes der Regierung erfolgt war. (Foto: zaman)

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Veli Kücük nach der Freilassung vom Gefängnis.
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Die kürzliche Freilassung zahlreicher in Erster Instanz zum Teil zu lebenslangen Haftstrafen verurteilter, mutmaßlicher Beteiligter an der aus dem „tiefen Staat” erwachsenen „Ergenekon“-Terrororganisation hat zu heftiger Kritik quer durch alle Parteien und Bevölkerungsgruppen geführt.

Hintergrund der Freilassungen ist das Inkrafttreten eines neuen Gesetzes (Nr. 6526), wonach Sondergerichtshöfe abgeschafft werden und Verdächtige, die noch nicht rechtkräftig verurteilt wurden, nicht länger als fünf Jahre in Haft gehalten werden dürfen. Die Regelung ist aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zwar dringend geboten, um eine faktische Bestrafung auf Verdacht durch überlange Haftzeiten zu vermeiden, in der Praxis hat sie jedoch zu untragbaren Ergebnissen geführt. So unter anderem zur Freilassung mehrerer in Erster Instanz zu langjährigen Haftstrafen verurteilter Personen im Ergenekon-Prozess sowie mutmaßlicher Beteiligter an der Ermordung dreier christlicher Missionare in Malatya.

Staatspräsident Abdullah Gül betonte zwar, man müsse schon zwei Mal hinsehen, wenn Fälle nicht innerhalb von fünf Jahren geklärt werden können, obwohl der Verdächtige in Haft sitzt. Aber er räumte auch ein, dass es Probleme gäbe, die bereinigt werden müssten.

Kritik gab es trotzdem aus den Parteien. Der Abgeordnete der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), Şamil Tayyar (Gaziantep), nannte die Freilassungen einen „Justizskandal“, zumal unter den Freigelassenen auch „Lebenslängliche“ waren. Er kritisierte Bekir Bozdağ, dieser habe sein Versprechen nicht gehalten, wonach keine Putsch- und Terrorismusverdächtigen durch die Neuregelung freikommen würden.

Neues Verfahren gegen Başbuğ vor dem Staatsgerichtshof?

Der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte (HYSK) hat eine Untersuchung der Entscheidungen des 13. Hohen Strafgerichtshofs in Istanbul angeordnet. Auch Premierminister Erdoğan kritisierte die Freilassungen. Die Verdächtigen seien während eines anhängigen Verfahrens auf freien Fuß gesetzt worden, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, es hätte keinen Putschversuch gegeben. Allerdings solle der Prozess gegen den früheren Chef des Generalstabes, Gen. İlker Başbuğ, vor dem Obersten Staatsgerichtshof geführt werden und nicht vor dem Hohen Strafgerichtshof.

Der stellvertretende Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) und Abgeordnete für Istanbul, Gürsel Tekin, begrüßte zwar in manchen Fällen die Freilassung von Angeklagten, andere jedoch „verletzen das Gewissen von Menschen“, meinte er und bezog sich dabei auf Personen, die wegen Mordes verurteilt worden waren.

Auch der Vorsitzende der Partei der Großen Einheit (BBP) übte Kritik und meinte, die Türkei werde für die Freilassung von Ergenekon-Verdächtigen „einen hohen Preis“ bezahlen. Die Einflussnahme der Regierung auf die Justiz habe diese in großes Chaos geführt und das Vertrauen untergraben. In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik des Vorsitzenden der Glückseligkeitspartei (SP), Mustafa Kamalak, der meinte, nicht die Justiz habe das Chaos zu verantworten, sondern der Gesetzgeber.

Nun auch Veli Küçük auf freiem Fuß

Unterdessen wurden am Mittwoch weitere Ergenekon-Verdächtige freigelassen. Der 21. Hohe Strafgerichtshof in Istanbul hob die Urteile des 13., die den Antragstellern abschlägig beschieden hatten, auf. Als Folge davon wurde nun auch einer der mutmaßlichen Köpfe hinter der Putschistenorganisation, der pensionierte General Veli Küçük (Foto), der zu zwei verschärften lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt worden war, auf freien Fuß gesetzt. Dabei wurde der Fall des zuvor freigelassenen Ilker Başbuğ als Präzedenzfall herangezogen.

Neben Küçük profitierten auch Sevgi Erenerol, die sich „Medien- und PR-Offizierin des Unabhängigen Patriarchats“ nannte, bevor sie unter Ergenekon-Verdacht geriet, Kemal Kerinçsiz, Ali Fikri Karadağ, Levent Ersöz, Serdar Öztürk und Fuat Selvi von dem Gerichtsbeschluss.

Justizminister Bekir Bozdağ meinte in einer ersten Stellungnahme, er sei persönlich „betrübt“ über die Entwicklung. Gegenüber TRT Haber meinte er, die Begründung für die Freilassung Başbuğs wäre zwar korrekt, aber als Präzedenzfall wäre dies nicht zu verstehen gewesen.