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Politik

Türkei: Angst vor Rückkehr des Polizeistaats

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Der kürzlich ins Parlament eingebrachte Entwurf zur Neuregelung der Gesetze zur inneren Sicherheit sorgt für Kritik in der Opposition. Die Regierung hingegen spricht von einer Anpassung an EU-Normen. (Foto: dha)

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In der südtürkischen Provinz Adana wurde am Freitagmorgen nach Angaben seines Anwalts der Journalist Aytekin Gezici kurzfristig in Gewahrsam genommen, sein Haus wurde durchsucht. Die Maßnahme soll die erste sein, die auf der umstrittenen Neuregelung der Strafprozessordnung beruht, die den Sicherheitsbehörden erlaubt, sich bereits bei „nachvollziehbarem Verdacht“ um die richterliche Genehmigung von Maßnahmen zu bemühen, die in Grundrechte der Bürger eingreifen. Die Beamten hatten laut Durchsuchungsbefehl den Auftrag, nach „möglichem strafbaren Besitz“ zu suchen und wurden ermächtigt, den Computer des Beschuldigten und die darauf gespeicherten Programme, das Mobiltelefon, die Kamera und anderes elektronisches Material zu untersuchen und die darauf enthaltenen Dateien zu kopieren.

Anlass für die Maßnahme sollen Tweets gegen Regierungsmitglieder und der Inhalt eines Buches über den bislang noch nicht identifizierten Whistleblower „Fuat Avni“ gewesen sein. Offenbar verspricht man sich aus der Beweisauswertung auch Hinweise auf dessen Identität. Gezici hatte für die TV-Sender Star und TGRT gearbeitet und war Presseberater einer Bezirksverwaltung in Adana. Die türkische Strafprozessordnung verlangt bis dato als Voraussetzung für die Anordnung einer Hausdurchsuchung einen „dringenden Tatverdacht“, der auf „konkrete Beweise“ gestützt ist. In Zukunft soll bereits ein „nachvollziehbarer Verdacht“ ausreichen. Der Volltext des Entwurfes der geplanten Gesetzesnovelle, die der stellvertretende Premierminister Bülent Arınç kürzlich angekündigt hatte, ist noch nicht verfügbar. Wesentliche Punkte wurden jedoch bereits seitens der Regierung selbst angesprochen.

„Vandalismus und Straßengewalt verhindern“

Der Entwurf eines strengen Sicherheitsgesetzes wurde von einer Gruppe Abgeordneter der regierenden Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung; AKP) in der vergangenen Woche ins Parlament eingebracht und soll die Befugnisse der Sicherheitsbehörden neu regeln. Die Novelle soll zum einen den türkischen Rechtsbestand an jenen von EU-Ländern anpassen, zum anderen den für die Sicherheit verantwortlichen Behörden mehr an Macht verleihen, um gegen Aufruhr wie in der Vorwoche wirksamer vorgehen zu können. Mehr als 37 Personen waren in der Türkei bei Zusammenstößen getötet und hunderte verletzt worden.

Im Rahmen eines Treffens im Innenministerium betonte Premierminister Ahmet Davutoğlu, die ins Auge gefassten Änderungen wären erforderlich, um ähnliche Ausbrüche an Vandalismus und Straßengewalt wie in der Vorwoche zu verhindern. „Wir werden unser Recht auf Freiheit und Demokratie nie aufgeben“, betonte Davutoğlu. Die Regierung erörtere nun, auf welche Weise der Gesetzesbestand im Bereich der inneren Sicherheit bestmöglich an westliche Standards angepasst werden kann. Dabei kristallisiert sich immer mehr heraus, dass man sich ein Beispiel an Deutschland nehmen wolle, da dieses Modell den meisten Regierungsmitgliedern als das bestgeeignete erscheint.

Genehmigte Demonstrationen stehen nicht in Frage

Den neuen Bestimmungen zufolge soll es Polizeibeamten gestattet sein, Waffen gegen Gewalttäter im Zuge von ungenehmigten Protesten auch einsetzen zu können, ohne zuvor einen Vorgesetzten um Erlaubnis gefragt zu haben. Gewalttätige Demonstranten sollen künftig auch ohne Gerichtsbeschluss verhaftet werden können. Auch sollen die Höchststrafen für Gewalttaten im Zuge nicht genehmigter Demonstrationen verdoppelt werden. Davutoğlu betonte gleichzeitig, dass das Recht, eine friedliche Demonstration durchzuführen, nicht angetastet werde. Es werde jedoch keine Toleranz mehr gegenüber Vandalismus und Aggressionen im Zuge nicht genehmigter Kundgebungen geben.

Die Opposition und unabhängige Beobachter hingegen befürchten eine Rückkehr des „Polizeistaates“. Sie kritisiert zum einen, dass es keine ausgiebige Debatte im Parlament gegeben habe, bevor der Entwurf eingebracht wurde, zum anderen, dass die Neuregelung der Polizei neue Befugnisse im Zusammenhang mit Durchsuchungen, Beschlagnahmehandlungen, Festnahmen und Anhaltungen geben würde, während die Rechte der Beschuldigten eingeschränkt würden und ihre Anwälte in ihrem Recht auf Zugang zu prozessrelevanten Informationen in jedem Stadium eines Verfahrens beschränkt würden.

Opposition: Kriegsrecht unter dem Vorwand der Sicherheit

Der Gesetzesentwurf würde auch die Beschlagnahme und den Verfall des Vermögens von Personen und Gruppen möglich machen, die rechtskräftig verfassungswidriger Aktivitäten oder des Versuchs, die Regierung zu stürzen, schuldig gesprochen würden. Der Abgeordnete der Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei; CHP), Ali Demirçalı (Adana), stellte der Regierung in Aussicht, dass sie die Konsequenzen ihrer „gesetzlosen Handlungen“ eines Tages vor dem Staatsgerichtshof zu verantworten haben würde.

Der Abgeordnete der Milliyetçi Hareket Partisi (Partei der Nationalen Bewegung; MHP), Ozcan Yeniçeri (Ankara), warnte, dass „die Polizei handeln könne, als wäre das Kriegsrecht verhängt worden“, sollte die Neuregelung in Kraft treten.

Idris Baluken, Abgeordneter der prokurdischen Halkların Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker; HDP) für Bingöl meinte, die Neuregelung würde nur die Spannungen verstärken. „Es ist, als würde man Benzin auf einen Brandherd kippen… und das zu einer Zeit, da so viele Kinder auf den Straßen durch die Polizei getötet wurden.“ Von nun an wurden Polizeibeamte nicht nur Schilde, sondern auch Schusswaffen zur Verteidigung verwenden können – mit einer Erlaubnis, zu töten.

Der Vorsitzende des Vereins für juristische Forschung (HUDER), Hüseyin Kaya, erklärte: „In Zeiten, wo die öffentliche Ordnung und das Leben und Eigentum der Menschen gefährdet sind, wird schnell und ohne lange zu überlegen auf solche Maßnahmen zurückgegriffen. Solange wir keine objektiven Rechtskriterien schaffen und einhalten, werden wir im Justizbereich weiterhin Probleme haben.“