Gesellschaft
„Der Staat ist Haupturheber von Hassreden“
Im Interview mit „Today’s Zaman“ beklagt der Dozent und Medienwissenschaftler Mahmut Çınar einen selektiven Umgang mit Hassreden seitens der Regierung. Dieser sei angesichts der marginal ausgeprägten Gewaltenteilung besonders gefährlich. (Foto: rtr)
Am gestrigen Sonntag jährte sich die Ermordung des türkisch-armenischen Schriftstellers und Zeitungsherausgebers Hrant Dink zum siebenten Mal. Aus diesem Anlass bat „Today’s Zaman“ Mahmut Çınar, Dozent in der Abteilung für Neue Medien an der Universität Bahçeşehir, zum Montagsgespräch. Çınar hatte kürzlich ein Buch mit dem Titel „Medya ve Nefret Söylemi“ (Medien und Hassrede) veröffentlicht.
Çınar übte im Gespräch scharfe Kritik an der türkischen Staatsideologie und der Regierung. Seiner Auffassung nach sei bis heute nichts davon zu bemerken, dass die verschärften Bestimmungen gegen Hassreden, wie sie Teil des Ende September 2013 verabschiedeten Demokratiepakets gewesen waren, auch nur ansatzweise umgesetzt worden wären.
Çınar machte das Fehlen einer effektiven Gewaltentrennung für die Situation verantwortlich. In Ländern wie der Türkei würde die Justiz regelmäßig als verlängerter Arm zur Durchsetzung der Wünsche der Exekutive benutzt. Aus diesem Grunde würden Gesetze gegen Hassreden aber nur dort effektiv greifen, wo die Regierung ein Interesse an deren Durchsetzung hätte. Das wäre etwa im Bereich der Islamophobie oder der Beleidigung der Nation der Fall. Kaum hingegen, wenn es um die Beleidigung des Kurden- oder Armeniertums gehe. Die Bedenken vieler Menschen, so Çınar, richten sich gegen die Möglichkeit, dass die Regierung diese Gesetze nützen könnte, um der Gesellschaft ihre eigene Ideologie und ihr Glaubenssystem aufzunötigen.
Der Akademiker und Buchautor wies aus Anlass des Gedenkens der Ermordung Hrant Dinks durch die Zivilgesellschaft darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2010 festgestellt hatte, die Türkei hätte es unterlassen, Dink zu schützen, obwohl es Warnungen vor ultranationalistischen Komplotten gegeben habe. Auch die Untersuchungen seien fehlerhaft geführt worden.
Was Hassrede von bloßer Beleidigung unterscheidet
Çınar meinte, die meisten Formen der Hassrede würden von Medien produziert, und zwar von solchen, die von Kräften benutzt würden, die über Autorität und Macht verfügen und die Medien als Werkzeug verwenden könnten. Hassreden würden auf diesem Wege sehr effektiv reproduziert. Gegenkräfte gäbe es nur wenige und diese noch nicht allzu lange. Eigentlich wäre erst der Mord an Hrant Dink der Ausschlag gebende Moment gewesen, um das Thema in der Türkei überhaupt zu reflektieren.
Hassrede unterscheide sich von üblichen Beleidigungen durch ihren gruppenbezogenen Kontext, sei es eine rassische, ethnische oder sexuelle Gruppe. Menschen werden angegriffen, weil sie zB Armenier oder Kurden sind, und mit dem Angriff auf einen von ihnen seien sie alle gemeint. Dies gefährde den Frieden in besonderer Weise, weil sich die gesamte Gruppe bedroht fühle. Der soziale Friede sei dadurch noch stärker gefährdet – deshalb aber sollten Verbrechen aus Hass auch strenger bestraft werden.
Was die Ermordung Hrant Dinks anbelange, seien die wirklich Verantwortlichen, tiefe Strukturen im Staat (Ergenekon) nie angeklagt worden, meint Çınar. Die Medien hatten eine entscheidende Rolle und die eigentlichen Täter Ogün Samast und Yasin Hayal wären als herkömmliche Mörder verurteilt worden; der Hassfaktor, der das Ziel hatte, die gesamte armenische Community zu treffen, blieb demnach außer Acht.
Regierung bestimmt, was schützenswert ist
Gesetze seien aber jedenfalls weniger bedeutsam als ein möglichst breiter gesellschaftlicher Konsens, betont Çınar. Abschreckung alleine würde den Gebrauch von Hassreden nicht verhindern. Man müsse den breiten politischen und ideologischen Hintergrund zum Thema machen, der hinter den Manifestationen von Hassverbrechen stehe.
Vor allem sei es in der Türkei, wo die Justiz nicht wirklich unabhängig agieren kann und von der Exekutive gesteuert werde, so, dass der jeweilige Machthaber bestimme, was gut und akzeptabel für die Gesellschaft wäre, und der Rest eben „das Andere“ sei, das notfalls auch diskriminiert werden könne. Die Regierung interpretiere, wie das Gesetz zu interpretieren sei. Würden Hassverbrechen in der Türkei wirklich konsequent bestraft, wären Politiker die ersten, die davon betroffen wären.
Diskriminierende Sprache sei, so Çınar, etabliert worden und hätte eine lange Tradition im Land. Auch vor der Ermordung Dinks sei es in regelmäßigen Abständen zu Hassverbrechen gekommen, von den Thrakischen Pogromen 1934 über die Übergriffe von Maraş (1978), Çorum (1980) bis hin Sivas (1993). Alle diese Verbrechen hätten sich gegen Personen gerichtet, die außerhalb des Idealbildes der staatlichen Hegemonie standen, welches der sunnitische Türke sei.
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