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Gesellschaft

„Erdoğan wird nicht ewig Präsident sein“

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Besorgniserregend sei die Entwicklung der Türkei in den vergangenen Jahren, sagt der ehemalige Diplomat und Leiter des Orient-Instituts Gunter Mulack im DTJ-Interview. Er sieht aber auch Chancen für das Land.

Herr Mulack, Syrien, Zypern, Griechenland, Libyen: Die Türkei ist an vielen Konflikten beteiligt. Was steckt dahinter?

Die Türkei verfolgt in ihrer Außenpolitik vor allen Dingen das Ziel, mögliche Rohstoffvorkommen im östlichen Mittelmeer, also Gas, zu sichern. Deswegen gab es auch die Auseinandersetzung gerade mit Griechenland. Und der Einsatz von türkischen Truppen in Libyen zeigt wiederum das Interesse der Türkei, sich als ein Staat zu gerieren, der für Sicherheit und Stabilität einsteht.

In Libyen bricht die Türkei, neben anderen Staaten, das UN-Waffenembargo, in Syrien verstößt sie gegen Menschenrechte. Können Sie uns erklären, was Präsident Recep Tayyip Erdoğans Absichten sind?

Die Türkei will Flagge zeigen. In Libyen will sie sich sicher auch später wirtschaftlich beteiligen, wenn die Erdölindustrie wieder hochfährt.

„Schutzmacht für den Islam als politisches System“

Anders gefragt: Welche geopolitischen Ziele verfolgt der Präsident?

Geopolitisch verfolgt die Türkei ein Ziel: die Verhinderung eines kurdischen Staates in Grenznähe zur Türkei. Deswegen ist Ankara auch in Syrien tätig geworden, um die Region im Norden Syriens zu besetzen. Ein möglicher Kurdenstaat, womöglich noch mit Unterstützung Syriens, ist für Erdoğan ein Dorn im Auge. Andererseits will er sich mehr und mehr als Beschützerstaat für unterprivilegierte muslimische Staaten gerieren. Aktuell ist die Türkei der einzige Staat, der da ganz deutlich Partei für die Palästinenser ergriffen hat. Der Präsident will seine Macht zeigen und hinterlegen, dass die Türkei ein wichtiger Akteur in der Region ist. Er versucht, eine eigenständige Linie zu entwickeln – mit einer neo-osmanischen Machtentfaltung und als Schutzmacht für den Islam als politisches System.

Stichwort neo-osmanische Politik: Will der türkische Präsident tatsächlich das Osmanische Reich wiederaufleben lassen?

Erdoğan will damit im Kontext der, wirtschaftlich gesehen, miserablen Lage im Land zeigen, dass die Türkei stark ist. Wegen der Corona-Pandemie und dem damit verbundenen Wegbrechen des Tourismus will er nach außen auftrumpfen und zeigen: ‚Wir sind eine wichtige Macht.‘ Dass ein Großteil der Türken nationalistisch denkt und stolz auf das Vaterland ist, spielt ihm in die Karten. Das Signal lautet nach innen wie außen: Mit der Türkei ist zu rechnen.

„Gewisses Erpressungspotenzial vorhanden“

Welche Rolle spielt der Westen mit Blick auf die Türkei?

Mit dem Westen möchte man sich nicht völlig überwerfen, besonders nicht mit der EU. Denn die EU als Handelspartner, und Deutschland ganz besonders, bleibt von einer sehr großen Wichtigkeit für das Land. Die Türkei bleibt wiederum für den Westen wichtig, da sie Millionen von Flüchtlingen beherbergt. Dadurch ist aber auch ein gewisses Erpressungspotenzial vorhanden.

Ist die Türkei – immerhin NATO-Mitglied – noch ein verlässlicher Partner für Europa?

Ja, das ist die große Frage. Man muss sich aber davor hüten, die Türkei ins Abseits zu stellen. Das halte ich für falsch. Es ist ein großer Staat mit einer großen Wirtschaft und enormer Militärmacht, die wir als Westen durchaus gebrauchen können, zum Beispiel als wichtigen Partner in der NATO. Denn die Türkei hat immer eine wichtige Brückenfunktion zum Nahen Osten. Erdoğan ist aktuell an der Macht. Wie lange er an der Macht bleiben wird, bleibt abzuwarten. Und eines ist klar: Er wird nicht ewig Präsident sein. Um die Frage zu beantworten: Langfristig sehe ich die Türkei immer noch als verlässlichen Partner an.

„EU-Beitritt würde zu Reibungen führen“

Weil die Türkei immer undemokratischer wird, fordern viele, zum Beispiel im Europaparlament, einen Stopp des 2005 begonnenen Beitrittsprozesses mit der Türkei. Wie sehen Sie das?

Naja, der Beitrittsprozess ist nicht vorangekommen. Das muss man ganz klar sagen. Zurzeit ist es schwierig, einen autoritären Staat wie die Türkei, mit dem Islam als wichtigste Grundlage für die Politik, in ein säkulares Europa aufzunehmen. Das würde, glaube ich, nur zu Reibungen führen und nicht funktionieren. 

Insbesondere zu Deutschland bestehen viele Beziehungen, nicht zuletzt wegen der vielen Türkei-stämmigen Menschen, die in der Bundesrepublik leben. Ankara versucht verstärkt, in Moscheen und religiösen Einrichtungen sowie durch die Medien Einfluss zu nehmen. Wie schätzen Sie das ein?

Natürlich ist Deutschland sehr wichtig und man versucht, die gut ausgebildeten und oft auch wirtschaftlich erfolgreichen türkischstämmigen Deutschen auf seine Seite zu bringen. Die Türkei appelliert an das Vaterlandsgefühl dieser Menschen.

Eine letzte Frage: Wird die Türkische Republik im Jahr 2023 ihren 100. Geburtstag als Republik noch erleben?

Ja, das wird sie. Denn ich sehe keine unmittelbaren Revolutionen oder sonstige Unruhen aufziehen. Als Staat ist die Türkei stabil.

Dr. Gunter Mulack war Botschafter der Bundesrepublik und Islam-Beauftragter des Auswärtigen Amtes. Aktuell arbeitet er als Direktor des Orient-Instituts.

Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder. 

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