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Kolumnen

Warum das Votum des türkischen Volkes stringent und durchdacht ist

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Ein Volk wählt, ein Mann gewinnt, die Demokratie verliert, so kann man die Ergebnisse aus den türkischen Kommunalwahlen zuspitzen. Doch die Hizmet-Bewegung kann ein Korrektiv sein. Eine ausführliche Wahlanalyse von Kamuran Sezer.

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Der Ausgang der Kommunalwahlen in der Türkei hat die Welt überrascht. Da wird dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan Korruption vorgeworfen, der sich wiederum mit aggressiver Rhetorik und Verschwörungstheorien zur Wehr setzt. Er kündigt an, Youtube und Twitter zu sperren, und tut dies auch tatsächlich. Es werden kompromittierende Telefonmitschnitte veröffentlicht, in denen die vermeintliche Stimme des Ministerpräsidenten zu hören ist. Einige Mitschnitte seien echt, gibt er später zu.

Darunter befinden sich immerhin solche, in denen er Chefredakteuren türkischer Medien Anweisungen gibt, diese oder jene Nachricht abzusetzen oder zu ändern. Der Ministerpräsident greift höchstpersönlich in die Informationshoheit eines privaten Medienunternehmens ein. Und trotzdem: Seine Partei, die AKP, gewinnt die Kommunalwahlen.

Im Eindruck dieses Ergebnisses habe ich auf Facebook spontan gepostet: „Demoskopisch gesehen kann Recep Tayyip Erdoğan barfuß über Wasser laufen.” Offensichtlich war ich mit meiner Verwunderung über den Ausgang der Kommunalwahlen nicht alleine. Medien und Kommentatoren weltweit staunten nicht schlecht.

Inzwischen gibt es zahlreiche Artikel und Gastbeiträge, in denen wahlweise vier oder sechs Gründe aufgezählt werden, warum der Ausgang der Kommunalwahlen je nach Standpunkt unerwartet, überraschend oder vorhersehbar gewesen wäre.

Der wohl wichtigste Grund für das Wahlverhalten der Türken ist der wirtschaftliche Erfolg der Türkei, durch den die Menschen einen unmittelbaren Nutzen erleben. Die Lebensqualität und die Erwerbssituation der Menschen hat sich spürbar verbessert.

Polarisierung entlang anderer Linien

Auch die Meinungsforschungsinstitute IPSOS und KONDA kommen in ihren Umfragen unmittelbar nach den Kommunalwahlen zu diesem Ergebnis. Der Wirtschaftserfolg und auch die Person des türkischen Ministerpräsidenten waren starke Treiber in den Wahlentscheidungen der 53 Millionen Wahlberechtigten. Die Korruptionsaffäre, die Einflussnahme auf die Medien durch Erdoğan sowie die Twitter- und Youtube-Verbote hatten keinen Effekt auf die Wahlentscheidung.

In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse der endaX-Studie unter Deutsch-Türken, die ich mit meinem Team durchgeführt habe, folgerichtig:

Wir verfolgen die Diskussionen in der türkischen Community in Deutschland sehr aufmerksam. So konnten wir im konservativen Teil der Community ähnliche Zerwürfnisse und Polarisierungen beobachten wie damals zu Zeiten der Gezi-Park-Proteste. Während die Konfliktlinie im letzteren Fall – vereinfacht ausgedrückt – zwischen Linken und Konservativen verlief, zeichnete sich die Polarisierung rund um den Wahlkampf innerhalb des konservativen Milieus zwischen Anhängern und Sympathisanten der Hizmet- Bewegung und dem Rest ab.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangssituation hatte ich erwartet, dass diese Polarisierung sich in den Ergebnissen abbilden würde. Die Antworten, die wir erhalten hatten, waren eigentlich sehr deutlich: 82,5% der Befragten gaben sich überzeugt, dass die türkische Regierung in eine Korruptionsaffäre verwickelt ist. 86,1% vertraten zudem die Ansicht, dass hinter den Razzien vom 17. Dezember, die den Stein des Anstoßes für die Staatskrise in der Türkei gegeben haben, nicht die Hizmet-Bewegung steckt.

Ob Erdoğan-Anhänger, -Gegner oder Neutrale – die Befragten gaben ihre Antworten nicht aus einer Wahlpräferenz, sondern der Beurteilung der Sachlage. Nur über den Einfluss ausländischer Staaten zeigte sich die türkische Community uneins. Daher hatte all das keinen demoskopischen Effekt auf die Wahlpräferenzen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen IPSOS und KONDA auch. Auch wenn die Wählerinnen und Wähler in der Türkei überzeugt waren, dass die Korruptionsaffäre existiert, so hat sie ihre Wahlentscheidung nicht nennenswert verändert.

In den zahlreichen Gastbeiträgen, Analysen und Kommentaren sind viele Gründe, allen voran der wirtschaftliche Erfolg der Türkei, genannt worden, die mit der Regierung und besonders ihrem Chef in Verbindung gebracht werden, um den Wahlausgang zu erklären. Ich möchte an dieser Stelle drei weitere Gründe nennen, die ich in der Diskussion über die Kommunalwahlen vermisst habe, bevor ich meine abschließenden Gedanken darüber darlegen werde.

Der erste Grund wurde bereits von einigen Kommentatoren aufgegriffen, allerdings möchte ich ihn hier wiederholen, weil er für die Interpretation der Wahlergebnisse einen wichtigen Zugang anbietet: die Opposition.

Wahlurne

Die Opposition hat versagt

Sie funktioniert nicht. Sie fällt durch Häme statt durch konstruktive Arbeit auf. Während die Regierung gestaltet und formt, produziert die Opposition heiße Luft und führt ideologische Grabenkämpfe, so die allgemeine Wahrnehmung von den Oppositionsparteien. Haluk Temel, Kolumnist der linksliberalen Zeitung „Radikal”, legt daher den Wahlausgang als eine Botschaft aus, die sich in erster Linie an die Opposition richtet: Solange ihr euch nicht verändert, verändert sich auch der Sieger nicht, so sein Resümee aus den Wahlergebnissen.

Der zweite Grund ist die Rolle der Hizmet-Bewegung seit dem 17. Dezember. Caner Aver vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung hat in seinem Gastbeitrag für den Berliner Tagesspiegel in diesem Zusammenhang angeführt, dass die Wahlergebnisse die Schwäche der Hizmet-Bewegung gezeigt hätten. Sein Chef, Prof. Dr. Halil Uslucan, hat hingegen in seinem Gastbeitrag für die Zeit eine andere, steile Vermutung ins Feld geführt. Ihm zufolge „haben sich die Gülen-Anhänger doch eher für eine islamische Partei (AKP) als die – als gottlos wahrgenommene – Opposition entschieden. Islam und religiöses Selbstverständnis, eine Kerndimension der persönlichen Identität, waren am Ende wichtiger als die Verärgerung über Erdoğan.“

Eine solche These resultiert vielleicht aus einem Vorurteil gegenüber der Hizmet-Bewegung oder bedient ein solches. Denn es liegen keine amtlichen Daten vor, aus der man das Wahlverhalten der Anhänger der Hizmet-Bewegung oder einer anderen politischen, ideologischen oder religiösen Gruppe erklären könnte. Und wenn solche Daten vorliegen würden, müsste man sich über den Zustand der Türkei noch mehr Sorgen machen als man es jetzt schon tut.

Hizmet als Sündenbock für alle Jahreszeiten

In Bezug auf die Hizmet-Bewegung kann zurzeit nur eine Feststellung gemacht werden: Sie diente dem türkischen Ministerpräsidenten als Blitzableiter. Alles Schlechte konnte er auf sie umleiten oder in drängenden Fällen eine alternative Erklärung anbieten und damit Zweifel säen oder dem Glauben seiner Anhänger an ihn wiederherstellen.

Mahmut Çebi, Kolumnist der türkischsprachigen Zeitung ZAMAN, führte kürzlich an, dass er von einem Freund auf Parallelen zwischen Erdogans taktischem Verhalten und den paradigmatischen Lehrsätzen aus Hitlers „Mein Kampf” hingewiesen wurde. Dabei zeigte er acht Vergleiche auf. Darunter: „Konzentriere dich auf einen Gegner und mache ihn verantwortlich für alles, was schief läuft.”

Aus meiner Sicht gibt es aber auch einen weiteren wichtigen Grund, der kaum Beachtung in den Medien gefunden hat: Die Rolle der EU. 1963 haben Ankara und die EU ein Assoziierungsabkommen vereinbart, das den späteren EU-Beitritt der Türkei vorsah. 1999, also nach 36 Jahren, wurde der Türkei der Status eines offiziellen Beitrittskandidaten zugesprochen. Nach weiteren sechs Jahren, also 2005, wurden die ersten Kapitel eröffnet.

Die EU hat um dieses Ergebnis förmlich gebettelt

Seit dem Assoziierungsabkommen mit der Türkei 1963 bis heute sind 22 andere Länder Mitglied der EU geworden. Darunter auch solche, die zum Zeitpunkt des Assoziierungsabkommens noch nicht einmal existiert hatten. Aber das interessiert das türkische Volk inzwischen wenig. Warum soll man Mitglied in der Europäischen Union werden, die zwar von Demokratie und Menschenrechten immer redet und andere Länder mahnt, aber letzten Endes rigoros nach eigenen Interessen handelt?

Europäische Medien und Politiker haben sich während der Gezi Park-Proteste aktiv eingemischt und die zum Teil gewalttätigen Demonstranten mit ihrer Aufmerksamkeit angeheizt. Oder ein anderes Beispiel: Ägypten. Ein wunder Punkt in der Türkei. Der arabische Frühling in Ägypten zeigte, wie Europa die arabischen Despoten finanziell und militärisch unterstützt hat, um schließlich beim Putsch gegen den gewählten Staatspräsidenten Mohammed Mursi wegzuschauen. Erst, nachdem das Militär mehrere Tausend Demonstranten ermordete, zeigte der Westen eine erste – vorsichtige – Regung.

Erst vor einigen Tagen verurteilte ein ägyptisches Gericht innerhalb von 15 Minuten mehr als 528 Inhaftierte zum Tode. In den Ohren des türkischen Wahlvolks hört es sich nicht nach einer Verschwörung an, wenn Recep Tayyip Erdoğan von ausländischen Mächten spricht, die die Türkei genauso in den Chaos führen möchten, wie sie es in Ägypten gemacht haben. Da ist man froh über einen starken Führer, der einen schützt. So groß war die Europaskepsis der Türken noch nie.

Wenn man alle diese Gründe vor Augen führt, widerspricht der Wahlausgang den politischen Naturgesetzen nicht. Das türkische Wahlvolk hat sich im Grunde höchst rational verhalten. Sie sind keine Schafe, die blökend ihrem Hirten folgen, wie viele enttäuschte politische Gegner Erdoğans immer wieder nach jeder verlorenen Wahl anführen. Das Wahlvolk ist in eine bewusste Austauschbeziehung mit der Regierung und ihrem Chef eingetreten: die Delegation von Macht durch den Akt der Wahl gegen sicheren Lebensstandard, Lebensqualität und Sicherheit. Das ist die Abmachung.

Lesen Sie morgen im zweiten Teil, warum der harte Wahlkampf der türkischen Demokratie geschadet hat und die Hizmet-Bewegung ein Leuchtturm sein kann, die türkische Demokratie zu verteidigen.