Politik
Das Hemd des Kalifen Omar
Die Türkei wird von einem Korruptionsskandal erschüttert. Man wünscht sich aus tiefstem Herzen, dass die im Raum stehenden Anschuldigungen nicht stimmen. Das Bild jedoch, das sich derzeit dem Beobachter bietet, wirkt bedrückend. (Foto: dpa)
MEINUNG Wäre all das doch nur ein Albtraum, der vorbei ist, wenn man wieder aufwacht. Die Verwicklung politischer Amtsträger mit ihren eigenen Kindern und Verwandten in Ermittlungen wegen schwerer Straftaten ist wohl die schwierigste aller Prüfungen. Sowohl die Straftat als auch die Strafe betreffen das Individuum, das sie begeht. Keiner, egal wie nah er dem Angeklagten steht, darf für die Taten von anderen zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem gilt für jeden, bis er von einem Gericht schuldig gesprochen wird, die Unschuldsvermutung. Alle Bewertungen und Analysen sollten auf Grundlage dieser beiden wichtigen Rechtsprinzipien vorgenommen werden. Wir alle bewegen uns auf einem verminten Gebiet und stehen als Journalisten auf Messers Schneide. Es ist auch nicht immer einfach, auf der einen Seite dem Informations- und Kontrollrecht der Öffentlichkeit durch die Berichterstattung Rechnung zu tragen und auf der anderen Seite die Rechte der Beschuldigten nicht zu verletzen.
Die weit verbreitete Geschichte vom Hemd des Kalifen Omar, dem zweiten rechtmäßigen Nachfolger des Propheten Muhammad, passt genau zu der aktuellen Situation. Als Omar eine öffentliche Rede halten will, ertönen Widerworte aus dem Zuhörerkreis. In manchen Quellen wird Selman-i Farisi als derjenige genannt, der den Kalifen wegen seines Hemds öffentlich zur Rechenschaft zieht: „Von dem wenigen Stoff, der verteilt wurde, konnten wir uns kein Hemd zuschneiden lassen. Woher hast du aber ausreichend Stoff für dein Hemd gefunden? Bevor du keine Rechenschaft darüber abgibst, wo du soviel Stoff gefunden hast, darfst du nicht sprechen.“
Omar schweigt und überlässt das Wort seinem Sohn. Dieser sagte, dass er seinen Anteil seinem Vater geschenkt habe, damit er sich einen Anzug schneidern lassen könne. „Jetzt kannst du sprechen“, sagt der zufriedene Kritiker und lässt den Kalifen zu Wort kommen. Diese und ähnliche Anekdoten werden seit Jahrhunderten erzählt, damit sie eine Auswirkung auf die Handlungen der Gläubigen haben. Wenn sie keinen Gegenwert in unserem Alltag darstellen würden, wären sie nicht mehr als Märchen oder Wiegenlieder.
Transparenz kein Zeichen der Schwäche
Die Botschaft der Geschichte für die Gegenwart: Das Grundprinzip lautet Transparenz und es muss die Bereitschaft vorhanden sein, Rechenschaft abzulegen. Die Anwendung dieses Prinzips ist kein Zeichen für die Schwäche der Regierenden. Im Gegenteil; es stärkt das Ansehen der Politiker in den Augen des Volkes.
Omar war nicht jemand, in dessen Gegenwart es einfach war, das Wort zu ergreifen. Selman ging es darum, die Gerüchte, die im Volkes Munde waren, auszusprechen, um so Omar zu entlasten. Wenn dies nicht geschehen wäre, hätte sich diese unberechtigte Anschuldigung gegenüber dem Kalifen zu einer unheilbaren Wunde in den Gewissen der Menschen verwandelt und wäre zunehmend verbreitet worden. Auch heute sollte die Öffentlichkeit den Mut haben, von Politikern Rechenschaft über ihr Handeln zu verlangen und die Politiker sollten das nötige Selbstvertrauen besitzen, um bereit zu sein, Rechenschaft abzugeben.
Das sollte der Standpunkt sein, von dem man aus die umfassenden Ermittlungen, die einige Minister, Söhne von Ministern, Bürokraten und Geschäftsleute betreffen, bewertet. Über Korruption klagen auch regierungsnahe Journalisten. All diese Klagen könnten mit diesem Ansatz geklärt werden.
Verheerende Krisenstrategie
Leider werden derzeit alle rechtlichen, moralischen und politischen Fehler begangen, die gemacht werden können. Das Recht gebietet es, in Fällen, wo es um den Schutz der Rechte der Allgemeinheit geht, kompromisslos und nach dem Prinzip der Gleichbehandlung vorzugehen. Die Moral erweitert den Kreis der Verantwortung und verlangt auch von jenen, die rechtlich nicht verantwortlich sind, sich zu Wort zu melden. Wenn die Angeklagten vor Gericht kommen und es zu einem Schuldspruch kommen sollte, sind auch diejenigen, die keine Maßnahmen zur Verhinderung der Straftaten getroffen haben, moralisch verantwortlich. Auch tragen diejenigen, die gegen die Rahmenbedingungen und das Milieu, die Straftaten wie Korruption und Bestechung begünstigen, nicht vorgegangen sind, nach moralischen Maßstäben Verantwortung. Eine rein schützende Haltung hat auch politisch keine Legitimation. Unabhängig davon, ob sie etwas mit den Ermittlungen zu tun haben oder nicht, sind zig Mitarbeiter des Polizeidienstes strafversetzt worden. Das stärkt die Zweifel und hinterlässt Fragezeichen auch bei denen, die den Korruptionsvorwürfen keinen Glauben schenken wollen.
Auch die politische Sprache rund um die Ermittlungen ist problematisch. Ohne sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen, wird der Rechtsrahmen verlassen und über die Politisierung hinaus auch noch mit Verschwörungstheorien argumentiert. Die Menschen auf der Straße suchen jedoch zuallererst Antwort auf die simple Frage: „Stimmen die Anschuldigungen nun oder stimmen sie nicht?“ Das ist so wie bei einer Prüfungsfrage, bei der es um 70 Punkte geht. Auch wenn Sie die anderen Fragen richtig beantworten, können Sie wegen dieser einer Frage durchfallen. Die Verteidigung mit dem Argument „Es geht um eine Türkei ohne Erdoğan“ kann vielleicht die ohnehin schon überzeugten Anhänger der Regierung in ihrer Meinung bestärken. Aber nicht die gesamte Wählerschaft von fast 50% ist dieser Gruppe zuzurechnen. Für die Wähler aus der Mitte der Gesellschaft ist der aktuelle Zustand erschreckend.
Hizmet-Bewegung als Sündenbock
Die haltlosen Anschuldigungen gegen die Hizmet-Bewegung gehen indessen mittlerweile soweit, dass sie sogar für einen angebrannten Topf beschuldigt wird. Das Unschuldsprinzip, das für Menschen, bei denen Geld und Kassen beschlagnahmt wurden, gilt, wird bei einer gesellschaftlichen Gruppe außer Kraft gesetzt. Sie wird mit haltlosen Anschuldigungen, ohne einen Richterspruch einzuholen, öffentlich hingerichtet.
Die Strippenzieher des 28. Februars bemühten sich bereits vor neun Jahren, den Vorwurf, die Beschuldigten hätten versucht, den Staat zu unterwandern, vor Gericht zu beweisen. Da sie haltlos war und keine Beweise vorgelegt werden konnten, kam es zum Freispruch. Die teils tief in die Ergenekon-Bande verstrickten Eliten sahen in der Hizmet-Bewegung den Gipfel jeglichen Übels, sie unterdrückten und bekämpften sie deshalb auch mit allen möglichen psychologischen Mitteln. Ohne Ergebnis. Die These, dass unter jedem Stein die Bewegung zu finden sei, wurde von verschiedenen Kreisen so oft wiederholt, dass sie keinen Widerhall in der Gesellschaft mehr findet.
Umso weniger ist nun eine Verteidigungsstrategie der Mächtigen haltbar, wonach eine Ermittlung, bei dem es um so viele Goldmünzen und Dinare geht, mit dem Argument, die Hizmet-Bewegung stecke dahinter, zu entkräften wäre.
Autoreninfo: Bülent Korucu ist Chefredakteur der wöchentlich erscheinenden türkischen Zeitschrift „Aksiyon“.