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Politik

Türkei: Laizismus und Demokratie sind Segen Gottes für die Muslime

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In der Türkei wird nach wie vor über die umstrittenen Äußerungen von Parlamentspräsident İsmail Kahraman über die Rolle des Laizismus in der geplanten neuen Verfassung diskutiert. Mehrere Kolumnisten türkischer Zeitungen haben sich in den vergangenen Tagen damit befasst, darunter auch der liberale Politikwissenschaftler Dr. İhsan Yılmaz. Er verwies in seiner Kolumne auf den muslimischen Prediger Fethullah Gülen, der sich im Jahre 1999 in einem Fernsehinterview klar für Laizismus, Demokratie und die Republik ausgesprochen hatte. Auf die vergangenen Jahre rückblickend schreibt Yılmaz: „Der von der AKP verursachte gesellschaftliche, politische und theologische Verfall hat uns allen vor Augen geführt, dass der Laizismus nicht nur für religionsferne Gruppen von lebenswichtiger Wichtigkeit ist, sondern auch für diejenigen, die sich als konservativ oder religiös bezeichnen.“

Gülen hatte am 15. Juli 1999 in einem Interview erklärt: „Ich habe bei jeder Gelegenheit betont, dass der Laizismus – vorausgesetzt, man interpretiert ihn fundiert und umfassend – in der Türkei einen Segen Gottes darstellt, gerade für Muslime, aber auch für alle anderen Gruppen.“ Auch positionierte Gülen sich in der Frage der Demokratie mehrfach eindeutig. Im Gegensatz zu fundamentalistischen Gruppen geht der einflussreiche Prediger von der Vereinbarkeit von Demokratie und Islam aus.

Yılmaz sieht zwischen den Ideologien der Nazis, der Faschisten und der Islamisten eine Gemeinsamkeit in der Zieltstellung, eine perfekte Gesellschaft von oben nach unten zu formen. Er kommt zu dem Schluss, dass eine autoritäre Herrschaft des politischen Islam nicht nur für nicht-islamische, sondern auch für muslimische Gruppen eine Gefahr darstellt: „Als früher der Kampf zwischen Laizisten und Religiösen tobte, wurde die These aufgestellt, dass die Islamisten den nicht-religiösen Gruppen das Lebensrecht absprechen würden, sollten sie an die Macht kommen und sie festigen können. Die AKP-Regierung hat uns gezeigt, dass diese Befürchtung nicht nur berechtigt war, sondern dass es noch schlimmer gekommen ist. Nachdem sie an die Macht gekommen waren, haben die Islamisten nicht nur den Laizisten das Leben schwer gemacht. Sie bekämpfen auch religiöse und konservative Gruppen, die sich ihnen nicht unterwerfen wollen. Diese Gruppen haben es gar noch schwerer als die Laizisten, weil sie von der AKP leichter unterdrückt werden können als die Laizisten, da sie keine Unterstützung vom Militär oder aus dem Westen erhalten.“

Die Aussagen von Ismail Kahraman sieht Yılmaz nicht als einen Versprecher oder die Meinung eines Einzelnen, sondern als ein „Langzeitprojekt der AKP, das vorzeitig aus dem Munde des Parlamentspräsidenten an die Öffentlichkeit gedrungen ist“ und bedankt sich bei der Erdoğan-Partei: „Der freiheitliche und demokratisch Laizismus ist das humanste und zugleich islamischste Projekt, das die Menschheit bis heute entwickelt hat. Ich bedanke mich bei der AKP, die dazu beigetragen hat, dass wir alle begriffen haben, wie wichtig all das für uns ist.“

Religiöse, heimische und nationale Verfassung

Auch Levent Gültekin, der lange Jahre für Pro-AKP-Medien wie die Yeni Şafak arbeitete, erkennt in den Aussagen von Kahraman eine langfristige Strategie. Das Ziel der AKP-Ideologen sei es, unter dem Vorwand, eine „religiöse, heimische und nationale Verfassung“ zu schreiben, die religiösen Gefühle der Gesellschaft anzustacheln und zu manipulieren. Ihr eigentliches Ziel sei eine Volksabstimmung, bei dem das Präsidialsystem zur Wahl gestellt werde: „So werden wir uns immer weiter von Demokratie und Menschenrechten entfernen und zu einem immer weniger lebenswerten Land entwickeln. Wir bewegen uns auf einen Punkt zu, von dem ein Rückkehr nicht mehr möglich ist.“

Der AKP-Parlamentspräsident Kahraman forderte vergangene Woche in einer Rede eine religiöse Verfassung für die Türkei. Nach heftiger Kritik aus dem In- und Ausland ruderte er zurück und stellte klar, dass es sich lediglich um seine private Meinung gehandelt habe. Auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nutzte die Gelegenheit, sich erneut für den Laizismus auszusprechen. Beobachter gehen jedoch davon aus, dass die neue Verfassung, an der die AKP-Regierung arbeitet, einen stärkeren Bezug zu Religion haben soll als ihre Vorgänger. Die aktuelle Verfassung stammt aus dem Jahre 1982 und wurde von den Militärs geschrieben, die am 12. September 1980 geputscht hatten.

Doch auch die Praxis des Laizismus vor der AKP-Regierungszeit ist Gegenstand der Kritik. Die damals mächtigen Kemalisten der alten Eliten praktizierten eine anti-islamische Deutung des Laizismus, wie der Soziologe Ali Bulaç bemerkt: „Man kann behaupten, dass diese Rechtsbrüche nichts mit dem ‚freiheitlich-demokratischen Laizismus‘ zu tun hätten. Doch in der Türkei war der Laizismus nie respektvoll gegenüber der Religion. Im Gegenteil: Er bezog gegenüber dem Islam eine Gegenposition als säkulare Religion.”