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Politik

Der neo-osmanische Traum und das böse Erwachen

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In einem Interview mit der Tageszeitung Bugün spricht der renommierte türkische Schriftsteller und Kolumnist Ali Bulaç über den Nahen Osten, die AKP und wie diese sich im Laufe der Jahre von ihren eigentlichen Zielen entfernt hat. (Foto: zaman)

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Der renommierte türkische Schriftsteller und Kolumnist Ali Bulaç.
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Hatten Sie mit den großen Umwälzungen im Nahen Osten gerechnet?

Die gegenwärtige Situation ist die Folge der fehlerhaften türkischen und iranischen Nahost-Politik. Das Aufstreben Chinas und Indiens ist nicht mehr zu übersehen. Während die USA ihr Augenmerk auf den Pazifik richten, wollen sie nicht, dass der Nahe Osten im Chaos versinkt.

Drei Akteure haben das Potenzial den Ton in der Region anzugeben: Die Türkei, der Iran und nicht zuletzt Ägypten. Seit der Revolution befindet sich der Iran im Streit mit dem Westen. In Ägypten herrscht ein autoritäres System. Die Türkei allerdings ist NATO-Mitglied und führt Beitrittsverhandlungen mit der EU. Zudem behauptet das Land, Demokratie und Islam unter einen Dach bringen zu können.

Der Westen richtete drei Forderungen an die Türkei: Gute Beziehungen zu Israel zu pflegen, den Schutz von Ölfeldern und die sichere Energiezufuhr zu gewährleisten und den Aufstieg radikaler Organisationen wie der al-Qaida zu verhindern. Der Westen sicherte der Türkei wirtschaftliche und politische Hilfe zu, sofern sie sich bereit erklärte, die Forderungen zu akzeptieren. Die Türkei akzeptierte sie.

Wann wurde der Türkei dieses Angebot gemacht?

In den Jahren 2000-2002. Erst danach erfolgten die Gründung und der Aufstieg der AKP. Diesen Zug darf man nicht als Bestechung betrachten, sondern als US-amerikanische Strategie, um über die Türkei die gesamte Region zu gestalten. Doch 2011 hat sich die türkische Außenpolitik grundlegend verändert. Der Weg, den die Türkei letztendlich bestritt, hat auch den arabischen Frühling entscheidend mitbeeinflusst.

Was genau hat sich in der türkischen Außenpolitik verändert?

Als in Syrien, ähnlich wie in Tunesien und Ägypten, die Protestbewegung begann, hat die Türkei bewaffnete Gruppen unterstützt, anstatt sich mit Assad auf einen geregelten Übergang zu verständigen. Dies hat zur Militarisierung der Opposition beigetragen. Saudi-Arabien hat die Türkei dazu überredet, den bewaffneten Widerstand zu unterstützen. Ankara hat zum einen nicht gesehen, dass ungefähr 45% der syrischen Bevölkerung hinter Assad steht. Und dass Syrien zum anderen im Jahre 2006 einen Beistandsvertrag mit dem Iran unterzeichnete.

Was ist das Ziel der ISIS?

Sie haben es auf Syrien, den Libanon, Jordanien, Palästina und den Irak abgesehen. Auch im Süden der Türkei bildet sich nun ein salafistisch-wahhabitisches Gebilde, das von den Saudis unterstützt wird. Mossul haben sie schon eingenommen und sie kommen weiterhin schnell voran. Die Türkei hingegen ist sprach- und tatenlos.

Wie erfolgreich können die ISIS-Milizen in einem de-facto geteilten Irak sein?

Nach den Ereignissen in Syrien und Ägypten sind die Beziehungen zwischen der Türkei und Saudi-Arabien deutlich abgekühlt. Die Einnahme irakischer Städte durch die ISIS ist weder im Interesse der Türkei noch des Iran. Wenn sich beide zusammentun, können sie den Marsch der ISIS-Milizen aufhalten. Doch so lange der Bürgerkrieg in Syrien tobt, kann die ISIS durchaus weitermarschieren. Im Irak ist ohnehin eine schwache Regierung an der Macht. Maliki hat nicht alles unter Kontrolle. Vor allem mit den Kurden hat er etliche Streitigkeiten.

Der Iran hat also die Möglichkeit, die Bestrebungen der Türkei in Syrien zurückzudrängen?

Die Türkei hat den Krieg in Syrien verloren. Sie ist nun auf den Iran angewiesen. Auch der türkische Einfluss auf die syrische Opposition schwindet. Vor zwei Jahren hatte die Türkei eine deutlich bessere Ausgangslage. Sie hätte damals die Opposition beruhigen können und der Iran hätte Assad zu mehr Dialog auffordern können. Doch sowohl die Türkei als auch der Iran interpretieren die Machtverhältnisse in der Region nicht richtig. Die Zeiten einer Hegemonialmacht im Nahen Osten sind vorbei.

Warum hat sich die AKP in den letzten Jahren so schnell verändert?

2011 hat eine besondere Gruppe bestehend aus Bürokraten innerhalb der AKP die Fäden der türkischen Außenpolitik in ihre Hände bekommen. Systematisch hat sich diese Gruppe in der Partei hochgearbeitet. So wie damals Enver Paşa haben sie von einem neuen Osmanischen Reich geträumt. Noch 2012 sagte der türkische Außenminister Davutoğlu: „Wir werden zu den Grenzen vor 1911 zurückkehren. Wir werden die abgegebenen Gebiete zurückbekommen. Ohne uns wird sich in der Region nichts machen lassen.“ Diese Worte bedeuten die Annexion von nahezu 50 Staaten.

Und Erdoğan?

Erdoğan hat man gesagt: „Du wirst der Führer der islamischen Welt. Vom Balkan bis zum Kaukasus und nach Zentralafrika werden wir wieder das Osmanische Reich errichten.“ Und er hat sich überreden lassen. Doch das böse Erwachen folgte schnell, als man ernsthafte Probleme mit Ägypten, dem Iran, Jordanien und Syrien bekam.

Wie bewerten Sie den Wandel der AKP?

Die türkische Öffentlichkeit hat die Syrien-Politik der Regierung nicht befürwortet. Vor allem unsere alevitischen Mitbürger haben sich verständlicherweise sehr unwohl gefühlt. Als der Druck auf die Regierung stieg, hat diese sich zunehmend autoritärer verhalten, um dem großen Druck seitens der Bevölkerung standzuhalten. Außerdem besteht die AKP-Regierung eigentlich aus einer Koalition.

Wie meinen Sie das?

Die AKP stammt aus der Tradition der Milli-Görüş-Bewegung. Das Wählerpotenzial des politischen Islam liegt maximal bei 20-23%. Doch die großen Stimmenreserven liegen bei den Kurden, Konservativen und in den ärmeren Schichten der Gesellschaft. Alle muslimischen Gruppierungen haben gemeinsam die AKP unterstützt. Doch 2011 hat die AKP-Führung den Erfolg sich selbst zugeschrieben. Sie begann die alten Bündnisse über Bord zu werfen. Geleitet durch staatliche Repressionsmaßnahmen ist sie nun damit beschäftigt, den Einfluss der ehemals Verbündeten muslimischen Gemeinden zu beenden. Die AKP nutzt ihre Staatsmacht, um muslimische Gruppen zu bekämpfen.

Wie sehen diese staatlichen Maßnahmen aus?

Ähnlich, wie wir sie bereits während und nach den Putschs vom 27. Mai 1960, dem 12. März 1971, dem 12. September 1980 und dem 28. Februar 1997 erlebt haben… Auch die Reaktion auf die Korruptionsermittlungen vom 17. Dezember vergangenen Jahres ist der Fortgang dieser staatlichen Tradition. Der Staat ist dabei, sich zu restaurieren und nutzt dazu die AKP. Deshalb ist die AKP die größte Katastrophe in der jüngeren türkischen Geschichte nach der Schlacht um Gallipoli. Denn sie hat alle Intellektuelle vereinnahmt und das freie Denken ausgelöscht. Es entwickelt sich eine Art Postkemalismus im Gewand des politischen Islam.

Ali Bulaç (Foto) gilt in der Türkei als ein Vertreter des politischen Islam. In den Jahren von 1995-98 war er auch als Berater des damaligen Istanbuler Bürgermeisters Recep Tayyip Erdoğan tätig. Das Interview erschien am 15.06.2014 in Bugün.