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Politik

In der Türkei nichts Neues: Nationalismus, Osmanismus und Islamismus

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Die Türkei ist ein multiethnisches Land, auch wenn das in der Anfangszeit der Republik lange Zeit negiert wurde. Eine Dezentralisierung könnte das Land spalten. Helfen könnte das indonesische Modell. (Foto: zaman)

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Eine Türkin hält ein Schild hoch, worauf "Wir sind alle Türken" zu lesen ist.
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In einer 1904 in Kairo erschienenen Zeitschrift sprach Yusuf Akçura (1876-1935), Vordenker des türkischen Nationalismus, in seiner Schrift mit dem Titel „Drei Stile der Politik“ von drei möglichen Identitätsbildungen der osmanischen Politik: Vom Osmanismus, der auch weiterhin alle Völker des Osmanischen Reichs unter einem Dach halten sollte; vom Islamismus, der durch Betonung der muslimischen Brüderlichkeit auch außerhalb des osmanischen Territoriums Einfluss ausüben sollte; und nicht zuletzt vom ethnischen Nationalismus, mit dem Ziel, die türkische Identität in den Vordergrund zu stellen, um ein Bündnis mit den restlichen Turkvölkern zu ermöglichen. Akçura bevorzugte den letzteren der möglichen Politikstile, um eine neue Nationalidentität zu bilden.

Wegen des Balkankriegs (1912-1913) und wegen des arabischen Aufstands (1916-1918) wurden der Osmanismus und eine Politik gestützt auf die muslimische Brüderlichkeit praktisch bedeutungslos. Der Nationalismus verblieb buchstäblich als einzige Alternative.

Der Kemalismus ist gescheitert

Nach gut einem Jahrhundert sieht sich die Türkei wieder mit drei alternativen Politikstilen konfrontiert. Zum einen ist da der Kemalismus, eine Ideologie gestützt auf die türkische Ethnie, weitestgehend bereinigt vom Panturkismus und hauptsächlich auf die Türkei konzentriert. Der Kemalismus, der 80 Jahre lang die Staatsdoktrin war, wurde theoretisch kaum aufgearbeitet und es haben sich viele Gegensätze gebildet. In der Verfassung erklärte man die staatliche Auffassung über die nationale Identität wie folgt: „Alle Bürger, die in der Türkei, leben sind Türken.“ Anders als die eigentliche Ideologie des Panturkismus, legte diese Auffassung einen Wert auf eine starke ethnische Betonung. Die Wimpel des türkischen Präsidenten enthalten beispielsweise die Symbole der historischen 16 Turkstaaten, die im Grunde außerhalb der heutigen Türkei gegründet wurden. Dennoch wurden sie als „türkisch“ eingestuft. Auch die zentralasiatischen Republiken wurden nach ihrer Unabhängigkeit als „türkisch“ bewertet.

Obwohl die ethnisch betonte nationalistische Staatsdoktrin Gegensätze aufwies, war sie dennoch zum Teil darin erfolgreich, die verschiedenen ethnischen Gruppen in der Türkei miteinander zu verbinden. Das sich in Umfragen rund 85% der Bevölkerung als Türken ausgeben, ist ein Beweis dafür. Jedoch ist diese Politik insbesondere wegen der Tatsache, dass staatlicher Druck auf Kurden ausgeübt wurde, gescheitert. Diese Politik beherbergt die Gefahr, die Türkei in ethnische Türken und ethnische Kurden zu spalten und scheint in Zukunft kaum noch tragbar zu sein.

Erdoğan und Öcalan: Zwei „Islamisten“

Als zweiten politischen Ansatz nennt Akçura den politischen Islam (Islamismus). Auch dieser politischen Theorie fehlt ein solides Fundament und sie ist zudem von vielen Gegensätzen geprägt. In letzter Zeit wurde zudem erkennbar, dass sich sowohl die AKP als auch Abdullah Öcalan, der Führer der terroristischen PKK, dieser politischen Theorie angenähert haben. Von der Außenpolitik bis hin zur Bildung verfolgt Erdoğan diese Richtung, mit Folgen für die traditionelle nationale Identitätsbildung. Dass Erdoğan am 18. Februar 2013 erklärte, er trete mit Füßen auf jede Form des Nationalismus, ist ein gutes Beispiel hierfür. Auf der anderen Seite hat sich Öcalan in seinen letzten Botschaften von der marxistisch-leninistischen Linie gelöst und sich freundlicher gegenüber dem politischen Islam geäußert. Beim „Demokratischen Islam Kongress“, der im vergangenen Monat in Diyarbakır auf Anweisung von Öcalan tagte, begann seine Botschaft mit den Worten „Meine muslimischen Brüder“: „Die nationale Einigkeit der islamischen Gemeinschaft finde ich bedeutungsvoll, was jedoch nicht dem Unsinn ‚Ein Staat, eine Nation, eine Flagge‘ gleichkommen soll“. Die Aussage „Ob ihr wollt oder nicht, Öcalan ist der Führer der Kurden“, die dem stellvertretendem Ministerpräsidenten der Türkei, Beşir Atalay, zugesprochen wird (15. Januar 2014), zeigt, dass sich eine Art „Erdoğan ist der Führer der Türken, Öcalan der Führer der Kurden und der Islam verbindet uns“ entwickelt hat. Zudem kursiert die utopische Annahme, dass sich die Türkei, wenn sie sich dem politischen Islam zuwendet, stärker wachsen und sogar Nordirak in sein Einflussgebiet aufnehmen werde.

Eine Politik gestützt auf den politischen Islam hat jedoch kaum Aussicht auf Erfolg. Zum einen ist eine der gravierenden Folgen, die diese Orientierung mit sich bringen kann, dass die Türkei auf ein zweiköpfiges, ethnisch geprägtes und asymmetrisches Föderalsystem zusteuert. Die zentralistische Regierung in Ankara würde seine Bedeutung verlieren und es würden sich zwei Machtzentren etablieren, nämlich in Ankara und Diyarbakır. Zum anderen würde diese Neuausrichtung Nichtmuslime, Säkulare, Aleviten und Gegner des politischen Islams benachteiligen und ausgrenzen.

Den „Türken“ als Staatsbürger neu definieren

Der dritte Politikstil, nämlich eine Politik gestützt auf die Zugehörigkeit zur Türkei (Türkeistämmige) hat größere Chancen auf Erfolg. Es handelt sich um eine Staatsbürgerschaftspolitik, die sich abwendet von der Betonung auf eine bestimmte Ethnie und eine verfassungsrechtlich geregelte allumfassende türkische Staatsbürgerschaft zu etablieren versucht. Bisher hat Şener Aktürk von der Koç-Universität dazu den wichtigsten Beitrag geleistet. In seinen Werken und in den Medien erschienenen Schriften erklärt Aktürk, dass ein Wandel über die Auffassung der nationalen Identität im Grunde immer möglich ist und gibt dazu Beispiele aus den verschiedensten Staaten der Welt. Der Begriff „Türke“ soll demnach so erweitert werden, dass er Turkmenen, Kurden, Tscherkessen, Bosniaken, das heißt alle türkischen Staatsbürger miteinbezieht. Anstelle „Ethnische Türken“ soll der Begriff „ethnische Turkmenen“ verwendet werden, sodass der Begriff „Türke“ ähnlich wie „Amerikaner“ alle Staatsbürger miteinschließt.

Auch der Begriff „Türkeistämmige“ bedarf einer Diskussion. Der eigentliche Punkt hierbei ist, dass alle in der Türkei lebenden Menschen einbezogen werden, so dass eine Unterscheidung zu nichttürkischen Staatsbürgern offensichtlich ist. Wenn verfassungsrechtlich alle türkischen Staatsbürger als „Türken“ betrachtet werden, dann dürfen Menschen, die nicht Staatsbürger der Türkei sind, auch nicht als „Türken“ bezeichnet werden. Kurz gesagt, infolge dieser Identitätsbildung wird man nicht mehr sagen, in Zentralasien leben „Türken“, sondern man wird von „Turkvölkern“ sprechen.

Nationalidentität als neue Herausforderung für Türken und Kurden

Wenn diese Identitätsbildung von breiten Kreisen akzeptiert wird und diese die Staatspolitik beeinflusst, wird man ethnische Herkunft und Staatsbürgerschaft als nationale Identität als zwei verschiedene Kategorien betrachten. Die Lehrsprache in den staatlichen Schulen soll weiterhin das Türkische bleiben, damit sich alle Bürger miteinander verständigen können, doch die kurdische Sprache soll sowohl in staatlichen Schulen als auch in privaten Einrichtungen gefördert werden. Auch Türken, deren Muttersprache nicht kurdisch ist, werden die Möglichkeit bekommen, es zu erlernen. Als Beispiel können die USA genannt werden, wo Englisch zwar die offizielle Amtssprache ist, in stark lateinamerikanisch besiedelten Regionen jedoch in staatlichen Einrichtungen häufig spanisch gesprochen wird. Das ist der praktische Ausdruck des offiziellen Spruchs der USA „E pluribus unum“, aus vielen Eins.

Diese neue Identitätsbildung setzt ein auf Erfolg gerichtetes und dezentralisiertes System voraus. In einem auf Erfolg fokussierten System steigen Individuen im sozioökonomischen System durch Fleiß und Eifer, den Bildungsgrad und Praxisbewährung auf. Die Zugehörigkeit zu einer Partei, Herkunft aus derselben Region, konfessionelle Bindungen, Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder zu einer bestimmten familiären Abstammung spielen in einem solchen System bei der Erlangung von beruflichen und staatlichen Positionen kaum eine Rolle. Welche ethnische Abstammung ein Individuum auch aufweist – jeder Staatsbürger ist gleichgestellt und besitzt dieselben gesellschaftlichen und beruflichen Chancen.

Dezentralisierung kann Spaltung verhindern

Mit Dezentralisierung meine ich keinesfalls ein zweiköpfiges, auf ethnische Spaltung beruhendes System. Nicht Ankara und Diyarbakır sollen gestärkt werden, sondern die kleinen administrativen Provinzen. Dieses Modell wird in Indonesien angewandt. Durch die Stärkung der Administration der einzelnen Provinzen, nahmen die Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Gebiete ab und die Teilung des Landes wurde somit verhindert.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese neue Nationalidentität, welche als „verfassungsrechtliche Türken“ oder „Türkeistämmige“ bezeichnet werden kann, bei ethnischen Turkmenen und ethnischen Kurden nicht auf Zustimmung stoßen wird. Doch wenn man sich die drei Alternativen vor Augen hält, scheint diese im Interesse aller zu sein. Jedenfalls brauchen wir auf jeden Fall eine öffentliche Debatte zur Frage der Nationalidentität.

Gekürzte Fassung des Artikels „Yeni(den) ‘Üç Tarz-ı Siyaset’: Etnik Türkçülük, İslamcılık ve Türkiyelilik“, erschienen in Zaman (20.06.2014).