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Politik

Türkischer Parlamentarismus begünstigt autoritäre Tendenzen

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Dass die Politik der Regierung Erdoğan autoritärer wird, liegt weder an einer vermeintlichen „Islamisierung“ noch an sonstigen kolportierten Faktoren, sondern ist Konsequenz eines politischen Systems, das dringend überarbeitet werden muss. (Foto: reuters)

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Im Korruptionsskandal in der Türkei hat die regierende AKP-Führung gegen drei kritische Abgeordnete ein Ausschlussverfahren eingeleitet.
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Die Verfassung garantiert die Freiheiten der Bürger gegenüber der Staatsmacht, die über Militär, Richter und Staatsanwälte sowie Polizei verfügt, und begrenzt die Befugnisse der Entscheidungsträger. Im Falle staatlicher Strukturen, in denen die Macht der Regierung nicht durch eine freiheitliche Verfassung begrenzt ist und die auf einer autoritären oder totalitären Ideologie gründen, hat der Freiheitskampf keine Aussicht auf Erfolg.

Im Falle der Türkei, die früher durch die autoritären Entscheidungen des Nationalen Sicherheitsrates regiert worden war, stellt sich die Frage, welche Art der Entscheidungsgewalt sich nach dem Prozess der Veränderungen eingebürgert hat und ob das neue System geeignet und wirksam genug ist, die Entscheidungsträger vom einem autoritären Handeln abzuhalten. Bietet die Verfassung eine ausreichende Grundlage für die Kontrolle und Begrenzung der politischen Macht der Regierung, und zwar in dem Maße, wie dies in den hochentwickelten demokratischen Systemen üblich ist?

Bereits vor Jahrhunderten hatte Aristoteles seine kritische Auffassung geäußert, wonach es immer ungerechte Politiker geben werde, weshalb gerechte Gesetze notwendig seien. Die Türkei bedarf eines Zweikammersystems, um gerechte Gesetze diskutieren und die Wirksamkeit der Kontrollmechanismen sichern zu können. Im Mittelpunkt dieser Fragestellung steht die Umgestaltung der Türkei von ihrem derzeitigen Status eines Landes, in dem Politiker nur eine Demokratisierung im Bereich der zweitrangigen Freiheiten, sog. kleine Pakete, tolerieren. Gleichzeitig muss man nach Antworten auf die Frage suchen, wie ein politisches System, das Autorität generiert, auf ein Fundament von Ausgewogenheit und Kontrolle gestellt werden kann.

Das Wesen der Demokratie sind die Grenzen der Staatsmacht

Sicher ist es kein Zufall, dass die Türkei, trotz langwieriger Versuche, es auch diesmal nicht geschafft hat, eine neue Verfassung zu verabschieden. Auch wenn die von den Putschisten des 12. September 1980 diktierte Verfassung von 1982 – in der allerdings die politischen Kontrollmechanismen größtenteils ausgehöhlt worden waren – in wichtigen Punkten geändert wurde, ist sie immer noch das Nonplusultra aller politischen Parteien der Türkei, sowohl der Opposition, die eines Tages gerne an die Macht kommen möchte, als auch der Regierungspartei, die die Macht innehat.

Demokratie ist eine begrenzende Regierungsform. Wenn man diese Grenzen nicht rechtzeitig und auf der Basis demokratischer Kriterien definiert, kann es an der Stelle der Gewaltenteilung zu einer Verflechtung der Gewalten (Legislative, Judikative und Exekutive) kommen. Zum Beispiel nutzt ein parlamentarisches System, dem es an parteieninterner Demokratie fehlt, durch eine normative Annäherung die Macht ausschließlich zur Regierungsbildung und entfernt sich in weiterer Folge vom Verständnis einer liberalen Demokratie. Das türkische Volk und die türkischen Intellektuellen, die durch die Bevormundung des Militärs resigniert hatten, betrachteten die Theorien des „autoritären Regierens“ mit Wohlwollen, ohne sie zu hinterfragen und unterstützten das Einparteiensystem, damit die demokratischen Veränderungen schneller vonstattengehen konnten.

Während des Prozesses der Normalisierung der Kontrollmechanismen des politischen Systems müssen die Balance aufrechterhalten und die Macht, die von den jeweiligen Institutionen ausgeht, kontrolliert werden und man muss ihre langfristige Zielsetzung beobachten. Auch wenn durch die Anklagen der Putschisten und durch Reformen im Nationalen Sicherheitsrat noch keine vollständige, sondern nur eine teilweise Entmachtung des türkischen Militärs stattgefunden hat, so ist infolge des Machtvakuums, das nach dem Referendum vom 12. September 2010 und infolge des Normalisierungsprozesses mittels des Verfassungsgerichts eingetreten ist, ein Machtzuwachs zu Gunsten der Exekutive festzustellen. Und das, obwohl demokratische Systeme im Rahmen des Prinzips der Gewaltenteilung sich selbst begrenzen, um die Menschenrechte, den Mechanismus der Kontrolle, Ausgewogenheit sowie die Freiheiten der Bürger zu wahren und zu garantieren.

Es gibt viele Wege zu einem Senatssystem

Das Prinzip der Gewaltenteilung wird in hochentwickelten Demokratien rigoros angewendet, damit Parteien, die bei den Wahlen eine Mehrheit erreicht hatten, ihre Vorhaben nicht bedingungslos und u. U. bis an die Grenzen der Legalität durchsetzen können. Demgegenüber sind bloß parlamentarische Demokratien auf dem Gebiet des Einsatzes der Kontrollmechanismen am schwächsten aufgestellt. Es ist nämlich gar nicht so einfach, eine Regierung, die sich aus den Reihen jener Partei(en) rekrutiert, die im Parlament am stärksten vertreten sind, zu kontrollieren. Das parlamentarische System ohne zweite Kammer, das in der Türkei herrscht, und in dem nicht einmal der parteieninternen Demokratie Bedeutung beigemessen wird, ist aus der Perspektive der Kontrolle noch viel versagensanfälliger.

Westliche parlamentarische Systeme haben dieses Problem zu lösen versucht, indem sie das „Zweikammersystem“, also das System des Senats, eingeführt haben. In den USA gibt es Senat und Repräsentantenhaus, in Frankreich hat der Senat die Rolle des Kontrollorgans inne, in der Bundesrepublik Deutschland der Bundesrat, in England das Oberhaus. Diese Organe kontrollieren als zweite Instanz neben der Regierung die Arbeit der Legislative und die Durchführung der Stellenbesetzungen. Hoch entwickelte Demokratien überlassen die Aufgabe der Gesetzgebung gewöhnlich nicht einem einzigen Organ, also etwa dem Parlament.

Im Präsidialsystem der USA zum Beispiel ist das Prinzip der Gewaltenteilung sogar geradezu „heilig“. In diesem System gibt es einen mächtigen Senat, der die Macht der Bundesstaaten repräsentiert. Der Senat der USA kann seine Kontrollfunktion ungehindert ausüben. Um das sicherzustellen und um zu verhindern, dass der Senat das politische System behindert, werden die Senatoren für jeweils sechs Jahre gewählt, dabei wird ein Drittel der Mitglieder jeweils alle zwei Jahre neu gewählt. Die Bevölkerung, die auf dieser Weise die Möglichkeit hat, die Leistungen des Senats intensiv zu verfolgen, kann eventuelle autoritäre Handlungen eines Präsidenten oder die Verhinderung von Leistungen durch unnötige Verweise seitens des Senats ausschließen oder beschränken.

Dieser zweite Flügel des Parlaments wird durch alternative Wahlsysteme geregelt, damit ein anderes Wahlergebnis als bei den normalen Wahlen erzielt werden kann. In Frankreich zum Beispiel wird der Senat in 22 Wahlkreisen ausschließlich durch Lokalpolitiker gewählt. In den USA werden jeweils zwei Senatoren aus jedem Bundesland entsandt und der aus 100 Personen bestehende Senat wird direkt von der Bevölkerung gewählt. In Großbritannien werden die Mitglieder des Oberhauses durch die Königin ernannt. In Deutschland besteht der Bundesrat aus den Vertretern der Landesregierungen.

Wie auch die Wahlsysteme sind die Befugnisse des Zweikammersystems verschieden. Während der US-Senat alle Gesetze und Verfassungsänderungen kontrolliert und dem Entsenden von Diplomaten zustimmen muss, kann der Bundesrat lediglich die Gesetze, die im Bund wirksam sind, sowie alle Grundgesetzänderungen kontrollieren. Wie es aus diesen wenigen Beispielen deutlich wird, haben die hochentwickelten Demokratien dieses System auf zwei unterschiedliche Achsen (beruhend auf unterschiedlichen Traditionen wie z. B. Föderalismus-Monarchie, Regionalismus usw.) aufgebaut und um die Wirksamkeit der Gewaltenteilung und der eigenen politischen Kultur zu erhöhen, haben sie zusätzliche Kontrollmechanismen eingesetzt.

Zweite Kammer funktioniert, wenn man sie nur lässt

Könnte in der Türkei ein Senatssystem in das vorhandene parlamentarische System integriert werden? In der Türkei ist die Ansicht verbreitet, dass diese Institution lediglich dazu dienen würde, das System der Bevormundung fortzuführen und es wird auf den Senat der Republik verwiesen, der teilweise aus ernannten Senatoren bestanden hat. Mit dem Hinweis auf dessen mangelhafte Kontrollmöglichkeiten wird gegen einen Senat argumentiert.

Diese Behauptung ist im Falle der Türkei, die nie über einen gesunden Parlamentarismus verfügt hat, ungerecht und ein Vorurteil, denn nach den Erfahrungen gefestigter Demokratien wird das Funktionieren der Kontrollen durch einen Senat sehr wohl bestätigt. Im Falle der Türkei wäre etwa ein Senat vorstellbar, der durch ein alternatives Verfahren in zwei Wahlgängen gewählt oder dessen Mitglieder allesamt durch die Parteien benannt würden. Ein solcher Senat könnte für ein politisches Gleichgewicht sorgen.

Man könnte aber auch über einen Senat als Alternative nachdenken, der in der Türkei aus 110 Senatoren gebildet werden könnte, nämlich aus jeweils einem Senator der einzelnen Provinzen und jeweils zwei Senatoren der Großstädte, mit der Begrenzung der Aufgaben der Gewählten auf die Legislative. Ein solcher Senat könnte die Gesetzgebung auf eine ausgewogene Basis stellen und damit die landesweiten Polarisierungen teilweise entschärfen und den Konsens zwischen den Parteien einleiten, vor allem aber die Legitimität der Demokratie bekräftigen.

Die in der Türkei von Entscheidungsträgern in diesem Zusammenhang oft aufgeworfene Frage, ob man denn den Wahlergebnissen nicht vertraue, ist zwar weitgehend berechtigt, dennoch kann sie, wenn sie zum Abdecken aller universeller Werte einer Demokratie verwendet wird, zu einem irreführenden Mittel werden. Wenn einzig die Wahlergebnisse betont und demokratische Werte wie Gewaltenteilung, Transparenz, Justizhoheit, Kontrollierbarkeit, Unabhängigkeit der Medien, Freiheit der zivilen Gesellschaft außer Acht gelassen werden, wird die Bevölkerung die Legitimität der Regierung und ihre Grenzen zu Recht in Frage stellen.

Innerparteiliche Demokratie findet nicht statt

Politiker, die an die Heiligkeit der landesweiten Wahlergebnisse glauben, müssten die gleichen Wahlprinzipien innerhalb ihrer eigenen Partei anwenden und darauf vertrauen, dass die innerparteiliche Demokratie im vollen Umfang funktioniert. Dies müssten sie aber auch bei der Aufstellung der Wahlkandidaten unter Beweis stellen. Denn auch die Wähler haben das Recht, Politikern, die sich vor der innerparteilichen Demokratie davonstehlen, die Frage zu stellen, ob sie denn den Wahlergebnissen nicht vertrauen würden.

Neben dem Prinzip der Gewaltentrennung sind unabhängige und in ihrer Mandatsausübung freie Politiker jene Kräfte, die die demokratischen Systeme am Leben erhalten. Wie die Gewaltenteilung in den politischen Systemen öffnet die innerparteiliche Demokratie den Weg für Politiker, in einem ausgewogenen und kontrollierten Rahmen tätig werden zu können. Aber in einer Struktur, in der 2000 Delegierte einen Vorsitzenden wählen, der seinerseits wiederum die Delegierten bestimmt, können sich keine freien und unabhängigen Politiker entfalten. Wähler, die keine Möglichkeit der Direktwahl haben, wählen in einem solchen geschlossenen System keinen direkten Vertreter, sondern können lediglich ihre Stimme für eine von dem Parteivorsitzenden bestimmten Tendenz abgeben (deren Ergebnis nicht einmal der Organisation selbst bekannt gegeben wird) und entscheiden auf diese Weise lediglich über einen Teil der auf den Wahllisten vertretenen Kandidaten, die ins Parlament gewählt werden. Wer als Politiker erneut kandidieren möchte, ist wiederum von dem Wohlwollen des Parteivorsitzenden abhängig. Angesichts dieses Systems wäre es eine Naivität, von einem auf diese Weise gewählten Parlamentarier zu erwarten, dass er sich in einem senatslosen System für Kontrollmechanismen einsetzt.

Auch wenn in der Türkei lange darüber diskutiert wurde, dass Parteien an öffentlichen Medien wie Zeitungen, Radios und Fernsehen nicht direkt oder durch Gremien teilhaben oder sogar Anteile erwerben sollten – wie dies in hochentwickelten Demokratien auch vielfach der Fall ist –, wurde  ein einschlägiges Gesetz zur Schaffung dieses erstrebenswerten Zustandes doch nie verabschiedet. In keinem der Demokratisierungsvorschläge der AKP gab es auch nur eine einzige Initiative zu diesem Thema.

Zweite Kammer kann auch Polarisierungsstrategien ausbremsen

Die Regierungen, die nun ihre wirtschaftliche Macht gegenüber den Besitzern der Medien ausspielen und auf diese Weise ihre Anteile steigern, üben nicht mehr unmittelbaren Druck auf Journalisten aus, sondern nutzen ihren Einfluss auf die Besitzer. Auf diese Weise eröffnen sie den Weg zur direkten Einflussnahme auf die Herausgeber bzw. Intendanten. Die Öffentlichkeit kann aber lediglich in dem Maße frei sein, in dem die Beziehungen zwischen der Politik und dem Kapital auf ein gesundes Mindestmaß reduziert und der Abstand höchstmöglich gewahrt werden kann, um die Ausgewogenheit zu wahren. Die Demokratie in der Türkei, die auch von einer Kontrolle durch die Medien weitestgehend frei ist, neigt sich in die Richtung der Zentralmacht.

Die Anklagen gegen die Mitglieder des Putschistenregimes von 1980 und die Reformen des Nationalen Sicherheitsrates haben die Vorherrschaft des Militärs ziemlich geschwächt. Dennoch gibt es in der Türkei keine – im Wortsinn – wirksame politische Kontrollinstanz (Senat), die die politischen Entscheidungsträger überprüfbar machen würde, wie dies in hochentwickelten demokratischen Systemen üblich ist. Und das trotz des Referendums von 2010, welches das Verfassungsgericht in die richtige Spur gebracht hatte, vor allem aber aufgrund des mangelnden innerparteilichen Demokratieverständnisses, das eine Kontrolle der Legislative verhindert, weil das Land über kein Zweikammersystem verfügt.

Regierungen, die über eine absolute parlamentarische Mehrheit verfügen, können die politischen Polarisierungen im Lande dazu missbrauchen, ihre eigene Autorität zu steigern. Die Bereitschaft der Medien, die Rolle der vierten Macht im Staat einzunehmen, muss nach der Änderung des Rechnungshofgesetzes, das eine Schwächung der Kontrollmechanismen bezweckt, diskutiert werden, denn die Frage, ob es in der Türkei eine Steigerung der Autorität bestimmter Parteien gibt, gewinnt mittlerweile an struktureller Bedeutung.

Die Zeiten, in denen Demokratie in dem Maße praktiziert wurde, wie Politiker sie uns gegönnt haben, sind vorbei und müssen vorbei sein. Das wichtigste Problem der Türkei ist also, wie sie diese Tatsache den Machthabern und den Entscheidungsträgern klipp und klar vermitteln kann.

Autoreninfo: Dr. Genç hat Politikwissenschaften in Heidelberg und Mannheim studiert und lehrt heute an der privaten Fatih-Universität in Istanbul Internationale Beziehungen. Er schreibt zusätzlich in der wöchentlich erscheinenden und auflagenstärksten türkischen Politzeitschrift „Aksiyon“.