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Politik

„Wir Türken neigen zu…”

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Aus dem Interessensgleichklang zwischen AKP und Hizmet ist eine scheinbare Gegnerschaft geworden. Aber muss das wirklich sein? Ein Leser aus Bottrop wehrt sich gegen den Druck, sich für eine Seite entscheiden zu müssen.

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Fanatische Parteianhänger bei einem Meeting.
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Bei den aktuellen Debatten über die Türkei, wo es nicht nur Medienberichten zufolge um einen „Machtkampf” zwischen der AKP-Regierung und der Hizmet-Bewegung zu gehen scheint, konnte ich einmal mehr ein ganz bestimmtes Verhalten in meinem Bekannten- und Freundeskreis beobachten.

Die AKP-Regierung behauptet, dass hinter den Ermittlungen im Zusammenhang mit der Korruptions- und Bestechungsaffäre eine internationale Verschwörung stünde und macht Anhänger der Hizmet-Bewegung um Fethullah Gülen dafür verantwortlich. Untermauert wird die Verschwörungstheorie durch die Behauptung einer angeblichen Willfährigkeit der Hizmet gegenüber ausländischen Mächten wie den USA, Israel oder Europa.

Die Hizmet-Bewegung und regierungskritische Medien sind wiederum überzeugt, dass die Regierung Erdoğan versucht, die Veruntreuung durch die Vorwürfe hinsichtlich einer Unterwanderung des Staates durch die Anhänger des Hizmet zu vertuschen und sich schleichend von den Werten der Demokratie weg hin zu einer „gelenkten Demokratie“ mit autokratischer Führung nach russischem Vorbild zu entwickeln.

Klassifizierung beginnt bei der Sprache

Somit gibt es augenscheinlich zwei sich gegenüberstehende Lager: Mir fällt auf, dass in unserem Kulturkreis eine Neigung zum „fanatischen Partei ergreifen“ besteht. Man muss sich für irgendeine Seite entscheiden, es gibt nur schwarz oder weiß. Dieses Phänomen konnte ich gut im Freundes- und Bekanntenkreis beobachten. Ständig ist man versucht, die Leute nach ihren Zugehörigkeiten zu beurteilen und einzuschätzen. Dabei entstehen Mauern, die schwer zu durchbrechen sind. Nicht selten entstehen dadurch auch verfeindete Lager, die sich dann „um den Tod nicht ausstehen“ können, weil der jeweils andere nicht die gleiche Meinung vertritt, die man selber gerade hat.

Begünstigt wird das Ganze durch eine Namensgebung der Anhängerschaften, die im Türkischen Sprachgebrauch mit den Begriffsendungen wie „-ci“ und „-cu“ oder „-cı“, manchmal auch „-lı“ oder „-lu“ enden. Zum Beispiel: Fethullah-‚cı‘, Akparti‘-li‘ usw. Dieser Sprachgebrauch lässt ein Dazwischen nicht zu. Eine adäquate Übersetzung ins Deutsche gibt es nicht. Am ehesten würde ich hier einen Vergleich mit der Endung ‚-er‘, z.B. CDU’ler oder SPD’ler ziehen. Die Verwendung im Türkischen ist nochmal eine Steigerung davon. Zudem kommt noch eine gehörige Portion an Emotionen dazu.

Doch warum gibt es eigentlich so eine Mentalität in der türkischen Politikkultur, frage ich mich, und versuche meine Analyse durch die geschichtliche Entwicklung der Türkei zu begründen.

Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches Anfang des 20. Jahrhunderts versuchte die damalige Regierung der neu gegründeten Republik durch Mustafa Kemal Atatürk eine einheitliche türkische Identität zu erschaffen, die eine Abweichung davon nicht zuließ. Dadurch wollte man verhindern, dass die junge und instabile Republik zusammenbricht.

Fußballsitten auf alle Lebensbereiche übertragen

Andersdenkende waren nicht erwünscht und es herrschte das Einparteiensystem. Man musste sich eben zur neu definierten, laizistischen türkischen Identität bekennen, um das Land nicht zu gefährden. Ende der 70er-Jahre entwickelten sich zwei Lager – Linke und Rechte -, die miteinander verfeindet waren und einander bekämpften. Ein Dazwischen gab es auch hier nicht. Man musste sich zu einer Seite bekennen. Diese Mentalität hat bis heute überlebt. Besonders gut kann man das Phänomen auch bei eingefleischten Fußballfanatiker der türkischen Vereine beobachten. Egal wie sich ein Fußballspiel entwickelt, ob ein Spieler aus der „eigenen“ Mannschaft sich fair verhält oder nicht: Immer sind die anderen schuld und man muss sich seinem Verein gegenüber loyal verhalten.

Diese Mentalität mag im Fußball vielleicht sogar noch als sportlich erscheinen. Man sollte aber diese Einstellung der übertriebenen Loyalität nicht auf alles im Leben übertragen. Diese Traditionen werden sogar von Generation zu Generation weitervererbt. Das finde ich immer amüsant, wenn ich einen Fußballfan die Frage stelle: „Wie bist du eigentlich zu Fener, zu Beşiktaş oder wie sie alle heißen gekommen?” Oder: „Warum bist du eigentlich ein unbekehrbarer CHP’ler oder AKP’ler oder MHP’ler?” Dann höre ich auch schon mal Antworten wie: „Schon mein Großvater war Fan” oder „als Fener-Fan wird man geboren”.

So ein Schwachsinn! Neulich hat mich ein Bekannter besucht. Kaum haben wir uns hingesetzt, da wurde mir die Frage gestellt: „Auf welcher Seite stehst du nun? Bist du jetzt AKP’li oder Cemaat’ci”. Da hatten wir es wieder: Dieses Wortspiel mit „li“ oder „ci“ am Ende. Nun, da stand ich erst mal und habe versucht, eine sachliche Antwort darauf zu geben, welches ja alleine durch die Fragestellung gar nicht möglich war. Schließlich musste ich mich ja entscheiden.

Meinungsverschiedenheit ist nicht gleich Landesverrat

Doch zurück zu unserem Eingangsthema. Warum soll ich nicht eine Partei mögen oder unterstützen, ohne sie auch mal kritisieren zu können? Meinungen können sich auch mal ändern. Auch die eigene Sichtweise kann sich verändern oder wandeln, mag sie richtig oder falsch sein. Viele Ereignisse und Entscheidungen waren sicherlich auch zu ihrer Zeit richtig oder „alternativlos”, wie unsere Kanzlerin Angela Merkel das so schön ausdrückt. Menschen können auch mal Fehler machen. Das muss man offen und konstruktiv diskutieren, ohne gleich als Verräter abgestempelt zu werden. Auch Anhänger der Hizmet-Bewegung sind Menschen und können auch mal Fehler machen.

Und zu den Vorwürfen an Gülen: Er ist sicherlich kein Dialektiker, wenn es um taktisches Verhalten in der Öffentlichkeit geht, oder darum, sich gut darzustellen oder zu positionieren. Das ist auch wahrscheinlich gar nicht sein Ziel. Diese Eigenschaft ist nur Politikern vorbehalten. Aber man sollte das, was er durch seine Inspiration und seine Werke aufgebaut hat, nicht verachten und mit Füßen treten. Ich persönlich habe großen Respekt vor seiner Lebensleistung.

Auch sehe ich keine Anzeichen dafür, dass er sich in irgendeiner Form bereichern möchte. Ich finde, man sollte versuchen, die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Und vor allem sollte man sich ruhig, besonnen, sachlich und objektiv verhalten. Eine Person, die in der Politik aktiv ist, nehme ich als gutes Beispiel dafür. Das ist Partei- und Gründungsmitglied Bülent Arınç von der AKP: Der macht stets einen gelassenen und besonnenen, aber dennoch soliden Eindruck. Ich sehe es nicht ein, mich hier irgendwo einzuschränken.

Das Beste aus beiden Welten

Ich versuche, mich sozial zu engagieren und nehme auch sehr gerne an den sogenannten „Sohbets” der Hizmet-Bewegung (regelmäßige Gesprächszirkel, bei denen Werke von Said Nursi und Gülen diskutiert werden) teil. Dieses Bedürfnis lasse ich mir durch nichts und niemanden nehmen. Ich war und bin auch immer noch bekennender Befürworter und Sympathisant der AKP. Schließlich hat diese Partei in den vergangenen zehn Jahren vieles erreicht, wovon davor nicht mal zu träumen war – genau wie die Hizmet-Bewegung.

Also liebe „Anhänger” der verschiedenen Lager: Ich lasse mich nicht in irgendeine Schublade stecken. Ich versuche von allem, das positive für meinen Lebensweg mitzunehmen. Diese Einstellung habe ich auch bezüglich meiner staatlichen Identität: Ich kann mich genauso als Deutscher identifizieren wie auch als Türke. Und wenn ich meine Wurzeln noch weiter zurückverfolge, müsste ich mich sogar als Bosnier zu erkennen geben. Aber vor allem bin ich doch aber ein Mensch und ein bekennender Muslim.