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Politik

Unverkennbar unter dem Einfluss der Gezi-Proteste

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Die Lust der Türken am EU-Beitritt schwindet, nicht zuletzt dank der gönnerhaften Behandlung durch Brüssel, die auch im jüngsten Fortschrittsbericht zum Ausdruck kommt. Der Nutzen der Beitrittsgespräche ist aber auch ohne Beitritt groß. (Foto: zaman)

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Der türkische Europaminister Egemen Bagis.
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GASTBETRAG Die Beitrittsverhandlungen sollen weitergehen. So lautet die Empfehlung der Europäischen Kommission im diesjährigen Fortschrittsbericht. In Anbetracht der ressentimentgeleiteten und populistischen Forderungen einiger Unionspolitiker, die Beitrittsverhandlungen zu stoppen, kann die Türkei diese am 16. Oktober 2013 veröffentlichte Empfehlung zunächst mal als eine positive Nachricht in Kenntnis nehmen. Neben erwarteter Kritik, besonders im Umgang mit den Gezi-Protesten und im Bereich der Presse- und Meinungsfreiheit, blieben auch die positiven Entwicklungen, wie das am 30. September 2013 vorgestellte Demokratiepaket oder die Justizreform nicht unerwähnt. Positiv Notiz genommen wurde auch vom Friedensprozess mit der PKK und von den Verbesserungen in Bezug auf die Minderheitenrechte.

Jedoch wurde auch eine Polarisierung des politischen Klimas bemängelt, die auf einem „Demokratieverständnis einer exklusiven Parlamentsmehrheit“ aufbaue anstatt auf einem Verständnis eines „partizipativen Prozesses“ indem alle Stimmen gehört würden. Alles in allem kann man von diesem, im Kern negativen Bericht behaupten, dass er unverkennbar unter dem Einfluss der Gezi-Proteste entstanden ist.

Verantwortungsbewusste Konsenskultur nötig

In der Tat vollzieht sich in der Türkei eine seit elf Jahren fortwährende Transformation in einem atemberaubenden Tempo. Von einem Staat, dessen Regierungen von Generälen bestimmt und in dem Bürgermeister tot aus zugeschütteten Wasserbrunnen herausgeholt wurden, wurde die Türkei zu einem Rechtsstaat, wo die dafür verantwortlichen ehemals Unantastbaren hinter Istanbuler Gefängnismauern jetzt ihre Strafe abbüßen. Von einem bankrotten, hoch verschuldeten und in den Fängen der IWF stehenden Staates zu einem wohlhabenden Sozialstaat. Die Veränderung jahrzehntelang fest eingefahrener undemokratischer Strukturen ist eine große politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderung, die sowohl Gewinner als auch Verlierer hervorbringt.

Gerade hier muss die Politik ansetzen und Aufklärungsarbeit leisten. Sowohl die Regierung als auch die Opposition müssen aus ihrer Verantwortung heraus handeln. Nur eine verantwortungsbewusste Konsenskultur, wo jeder sein politisches Gewicht kennt und im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen demokratischen Beitrag leistet, kann den Wandel weiterhin in hohem Tempo sicherstellen. Politische Grabenkriege, Blockadehaltungen und prinzipielles Misstrauen führen zu größerer Polarisierung der Gesellschaft.

Da ist es auch nur wenig hilfreich, mit Aussagen wie „nicht aus einem Verständnis der exklusiven Parlamentsmehrheit handeln” die Verantwortung einzig der Regierung zuzuschieben. Diese Sichtweise ist eine beschränkte und sehr einfach gestrickte Sichtweise, die den historischen Kontext dieser Polarisierung nicht genügend erkennt.

Generell betrachtet ist jedoch die Kritik der Kommission an dem „Demokratieverständnis einer exklusiven Parlamentsmehrheit” und von wegen „man soll in einem partizipativen Prozess alle Stimmen hören” eine weltweit höchst aktuelle Kritik, die ganz klar ihre Rechtfertigung hat. Oftmals haben Bürger das Gefühl, dass über Ihre Köpfe hinaus entschieden wird. Auch wenn die demokratischen Spielregeln auf Parlamentsmehrheiten aufbauen und dieses Mehrheitsverständnis auch in europäischen Musterländern gang und gäbe ist, sollte die Türkei doch ein sensibles Gehör für diese Empfehlung haben. Was besagt ein altes türkisches Sprichwort so schön? „Tue, was der Imam predigt, aber tue nicht, was er tut”.

Polizeigewalt in Hamburg hui, Auflösung der Gezi-Proteste pfui

Einer der zentralen Aufgaben der Kommission ist es, auf Probleme aufmerksam zu machen und Empfehlungen auszusprechen. Aber sie sollte auch aufpassen, sich nicht von einer politischen Seite vereinnahmen zu lassen. Auf die Massenkrawalle, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurden, eine Lobeshymne auszusprechen, ist ein offenbar nicht ganz vollständig durchdachter Schritt der EU-Kommission.

Die EU-Kommission setzt sich mit ihrer einseitigen Interpretationen der Art, die Gezi-Bewegung wäre „ein Ausdruck eines demokratischen Reifeprozesses, die türkische Zivilgesellschaft werde bunter und lebendiger”, dem Vorwurf der Parteinahme in einem innenpolitischen Grabenkampf aus.

Dass dies für Unverständnis und weiteres Misstrauen bei der Mehrheit der türkischen Bevölkerung schüren wird, kann man voraussehen. Gerne vorgehalten wird im Gegenzug oft der Umgang der EU-Länder selbst mit ihren eigenen „bunten Gesellschaften”. Kopfschüttelnd wahrgenommen wurde z.B. die exzessive Polizeigewalt in Hamburg, die vor einigen Tagen nur für sehr wenige Schlagzeilen sorgte. Eine im Vergleich zu Gezi kleine Demonstration von etwa 1000 Demonstranten, die für ein Bleiberecht von Flüchtlingen demonstrierten, wurde mit Wasserwerfern, Reizgas und Schlagstöcken aufgelöst. Als Beispiel, wie man „bunte Zivilgesellschaften” behandelt, dienen solche massiv überzogenen Reaktionen jedenfalls nicht. Auch hier sollte die Türkei auf die Weisheit ihrer Sprichwörter setzen: „Tue was der Imam predigt, aber tue nicht, was er tut”.

Nur noch 44% für Beitritt

Lob und Tadel hin und her: Es stellt sich prinzipiell die Frage, ob die Türkei auch nach erfolgreichem Abschluss aller 35 Kapitel jemals ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union werden kann. Die Akzeptanzwerte der EU-Bürger für einen Beitritt der Türkei sind nicht ermutigend.

Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen in 2005 wurde nur das Kapitel „Wissenschaft und Forschung” abgeschlossen. 34 Kapitel stehen noch aus. Das Eröffnen eines Kapitels stellt eine hohe innenpolitische Hürde für die EU dar und ruft jedes Mal Beitrittsgegner mit unterschiedlichster Motivation auf die politische Bühne. Nur wenige türkischer Politiker glauben deshalb noch an einen EU-Beitritt.

Begünstigt durch die kritische Haltung mehrerer EU-Länder und durch die eigene positive wirtschaftliche Entwicklung hat der Wunsch nach einem Beitritt auch unter den türkischen Bürgern nachgelassen. Laut der im September 2013 veröffentlichten „Transatlantic Trends”-Umfrage sind nur noch 44% der Türken für einen EU-Beitritt.

Der Weg als Ziel

Die Türkei sollte, unbeachtet der negativen Aussichten, ungeachtet der unnötigen Gezi-Floskeln der EU-Kommission, weiterhin den Reformprozess fortsetzen. Die im Bericht erwähnten Defizite sind wichtige Ansätze und sollten als Leitfaden für weitere Reformschritte dienen. Man darf nicht vergessen, welche enormen Kräfte die Beitrittsperspektive in der Vergangenheit freigesetzt hatte.

Wenn die Türkei so eine schnelle Turbo-Entwicklung durchgemacht hat, dann auch dank und mithilfe dieser Perspektive. Auch wenn am Ende höchstwahrscheinlich keine EU-Mitgliedschaft steht, sollte das Motto lauten: „Der Weg ist das Ziel”.