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Politik

Türkei: „Verdienen wir eine Demokratie?“

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Die Stürmung der Fernsehstudios von den regierungskritischen Kanälen Bügün TV und Habertürk und die Zwangsverwaltung der Koza İpek-Gruppe wenige Tage vor den Parlamentswahlen am 1. November schlägt in der Türkei hohe Wellen.

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Die Stürmung der Fernsehstudios der regierungskritischen Kanäle Bugün TV und Kanaltürk und die Zwangsverwaltung der Koza İpek-Gruppe wenige Tage vor den Parlamentswahlen am 1. November schlägt in der Türkei hohe Wellen. Prominente Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Lagern der Politik und Medien haben sich mit den Journalisten solidarisiert.

So kritisiert Fatih Portakal, der Nachrichtensprecher von Fox TV, das Vorgehen der Zwangsverwalter. In seiner Live-Sendung zitierte er den Paragraphen zur Pressefreiheit aus der türkischen Verfassung und sagte: „Heute ist der Tag, an dem die Narrative der freien Medien in der Türkei sein Ende haben.“

Gleichgeschaltete Medien und Demokratie sind unvereinbar

Şahin Alpay, Kolumnist der Zeitung Zaman, stellt die Frage, ob die Türken eine Demokratie überhaupt verdienen. Alpay unterstreicht in seiner Kolumne die elementare Bedeutung der Unabhängigkeit von Justiz und Medien für eine Demokratie.

Seit den Parlamentswahlen 2011 und spätestens seit den Korruptionsermittlungen vom Dezember 2013 nehme die Regierungspartei AKP die türkische Medienlandschaft immer stärker unter ihre Kontrolle. Schritt für Schritt habe sie sowohl staatliche Sender als auch eine Reihe von privaten Medien gleichgeschaltet, so Alpay.

Die unrechtmäßige staatliche Zwangsverwaltung der Koza İpek-Gruppe durch eine Übergangsregierung wenige Tage vor den Wahlen sei der nächste Schritt weg von einer freien Demokratie. „Ohne eine unabhängige Justiz und unabhängige Medien kann nicht von einer Demokratie gesprochen werden.“ Demokratie und Rechtstaatlichkeit stünden in der Türkei vor einer Zerreißprobe. „Ob wir die Demokratie verdienen oder nicht, wird sich am 1. November zeigen“, so Alpay.

„Geisteskranke im Rausche der Macht“

Hasan Cemal schrieb in seiner online-Kolumne auf T24, dass er in seiner 50-jährigen Karriere als Journalist einen solchen Eingriff in die Pressefreiheit noch nicht erlebt habe. „In Erdoğans Welt hat keiner der Werte, die eine Demokratie zur Demokratie machen, einen Platz. Er lebt in seinem Palast und schert sich weder um Demokratie noch um Rechtsstaatlichkeit.“

Mümtaz’er Türköne weist in seiner Kolumne bei Zaman darauf hin, dass Präsident Erdoğan und die AKP im Kampf um politische Macht jegliche Vernunft verloren hätten. Scheinbar sei Erdoğan von den Umfrageergebnissen kurz vor den Wahlen so sehr enttäuscht, dass er zu solch drastischen Maßnahmen greife. „Das ist Wahnsinn, nichts anderes. Er hat vor Angst um seine Macht scheinbar seine geistige Zurechnungsfähigkeit verloren.“

Wer so willkürlich und gleichgültig staatliche Macht missbrauche und das Recht breche, so Türköne, müsse sich darauf einstellen, selber eines Tages vor Gericht zu landen. „Doch bevor sie ins Gefängnis kommen, müssen sie noch in die Irrenanstalt. Das sind Geisteskranke im Rausche der Macht.“

Vorwurf der Geldwäsche nach der „Schlümpfe-Methode“

Derweil schreibt der AKP-nahe Kolumnist Ersoy Dede auf der Online-Plattform aktuel.com.tr, dass die Zwangsverwaltung der Koza İpek-Gruppe nichts mit der regierungskritischen Redaktionslinie ihrer Medien zu tun hätte. Die Koza İpek-Gruppe würde Geldwäsche nach der „Schlümpfe-Methode“ betreiben. Die Zwangsverwaltung sei lediglich die Folge der Ermittlungen gegen das Unternehmen und dürfe daher nicht als Eingriff in die Medien- und Pressefreiheit gewertet werden. Bei der „Schlümpfe-Methode“ geht es um Geld, dass in Ausland gebracht wird. In der Türkei darf man nur einen bestimmten Betrag außer Landes bringen, ohne es anzugeben.

Zwei Fakten scheint Dede jedoch übersehen zu haben. Erstens, in dem vom Ausschuss für Finanzkriminalität (MASAK) beauftragten Expertenbericht steht, dass die Koza İpek-Gruppe eine zu gute Buchhaltung für ein Land wie der Türkei habe, was als Verdacht ausreichend sei. Zweitens, durch die Zwangsverwaltung wurde die Redaktionslinie der Koza İpek-Medien um 180 Grad geändert und komplett auf AKP-Linie gebracht. Dedes Argument, es handle sich lediglich um Finanzkriminalität nach der „Schlümpfe-Methode“, lässt das mehr als unglaubwürdig erscheinen.