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Politik

Türkei: Wo findet Putschgeneral Evren seine letzte Ruhe?

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Der frühere Putschgeneral Kenan Evren, der am Samstagabend im Alter verstarb, wird ein Staatsbegräbnis ohne Parlamentsbeteiligung erhalten. Der frühere Generalstabschef wurde in erster Instanz zu lebenslanger Haft verurteilt.

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Nach dem Tod Kenan Evrens, des früheren Generalstabschef und Staatspräsidenten, der am späten Samstagabend im Alter von 97 Jahren starb, ist in der Türkei eine Debatte darüber ausgebrochen, ob es für Evren ein Staatsbegräbnis im „Devlet Mezarlığı“ (Staatsfriedhof) in Ankara geben soll. Evren war als Generalstabschef jener Zeit für den blutigen Militärputsch vom 12. September 1980 verantwortlich, der tiefe Spuren in der türkischen Gesellschaft hinterlassen hatte.

Der Militärputsch von 1980, der dritte in der türkischen Geschichte, war der Ausgangspunkt für 50 Hinrichtungen, etwa eine halbe Million Festnahmen, zahlreiche Fälle von Folter, hunderten Toten, die in Gefängnissen starben, und eine noch größere Anzahl an „Verschwundenen“ während der drei Jahre dauernden Ära der Militärdiktatur.

Die Militärs rechtfertigten den Putsch damals damit, dass sie gezwungen gewesen wären, die Ordnung nach Jahren des Chaos wiederherzustellen. In den Jahren vor dem Putsch starben etwa 5000 Menschen infolge politischer Gewalt zwischen links- und rechtsextremistischen Gruppierungen.

Evrens Töchter Miray und Şenay sowie Schwiegersohn Maksut Göksu sollen ein Staatsbegräbnis verlangt haben. Es wird davon ausgegangen, dass die Zeremonie eher im Generalstab als im Parlament abgehalten wird, da zahlreiche Politiker mit Blick auf den Putsch und dessen Folgen für die türkische Gesellschaft eine solche Lösung missbilligen. Evrens Familie soll Berichten zufolge mit dieser Vorgehensweise einverstanden sein.

Kein offizielles Statement aus Ankara

Ankara hat sich angesichts des Ablebens Evrens bislang in Schweigen gehüllt, im Laufe des Sonntags gab es keinerlei offizielles Erklärungen. Das einzige Kabinettsmitglied, das sich geäußert hat, ist Entwicklungsminister Cevdet Yılmaz, der an ein türkisches Sprichwort erinnerte: „Wir haben eine Tradition, der zufolge wir über einen Verstorbenen nicht schlecht reden. Wir sagen ‚Möge Gott seine Seele segnen‘.“

Der frühere Justizminister Bekir Bozdağ äußerte lediglich, es gäbe „im Moment nichts zu sagen“.

Am 21. Dezember 1979 hatte Evren in seiner Eigenschaft als damaliger Generalstabschef dem Präsidenten Fahri Korutürk ein von ihm und anderen Oberkommandierenden der Streitkräfte unterfertigtes Schreiben zukommen lassen, das als Memorandum betrachtet wurde. In Anbetracht der Pattsituation im Parlament, an welcher die anstehende Wahl eines neuen Staatspräsidenten zu scheitern drohte, sowie der Gewalt zwischen extremistischen Gruppen wurde hinter verschlossenen Türen in Ankara in dieser Zeit erstmals über einen weiteren Militärputsch nachgedacht.

Evren und die Oberkommandierenden bereiteten in weiterer Folge einen „Rahmen-Operationsplan“ vor, in dem Schritte abgestimmt wurden, die während eines Putsches vollzogen werden sollten. Am 5. September 1980 wurde der Plan an alle Militäreinheiten gesendet. Am 12. September wurde der Plan in die Tat umgesetzt, alle führenden Politiker des Landes wurden von Soldaten aus ihren Häusern abgeführt. Darüber hinaus wurde eine Ausgangssperre angeordnet und alle Aktivitäten politischer Parteien, Gewerkschaften, Kammern und zivilgesellschaftlichen Gruppen wurden untersagt.

Kenan Evren zeigte sich bis zuletzt uneinsichtig

Insgesamt wurden etwa 650 000 Menschen festgenommen, gegen 230 000 wurde in 210 000 Fällen Anklage erhoben, 517 Personen wurden zum Tode verurteilt, von denen am Ende 50, darunter 18 Mitglieder linksextremistischer Gruppen, acht Rechtsextreme, 23 reguläre Gefangene und ein Angehöriger der armenischen Terrorgruppe ASALA tatsächlich hingerichtet wurden. Einer der Hingerichteten war der erst 17-jährige Erdal Eren, dessen Fall dadurch berühmt wurde, dass das Gericht offenbar die Altersangaben manipuliert hatte, um das Urteil vollstrecken zu können.

Kenan Evren zeigte sich stets uneinsichtig und rechtfertigte beharrlich das Handeln seiner Junta, inklusive der Todesurteile. „Was hätten wir denn tun sollen? Sie nicht hinrichten und durchfüttern?“, soll Evren geäußert haben, und dass „seine Hände nicht gezittert“ hätten, als er die Todesurteile unterfertigte.

Darüber hinaus haben 30 000 Beamte nach dem Putsch ihre Jobs verloren, 30 000 Menschen verließen als politische Flüchtlinge das Land und 14 000 Staatsbürgern wurde aus politischen Gründen die türkische Staatsbürgerschaft entzogen.

Für die Dauer von 300 Tagen nach dem Putsch blieben Zeitungsredaktionen geschlossen, gegen 13 auflagenstarke Zeitungen wurden insgesamt 303 Gerichtsverfahren angestrengt.

Mitangeklagter Tahsin Şahinkaya ist letzter noch lebender Putschgeneral von 1980

Im Jahre 1982 nahmen 92 Prozent der Bürger in einer Volksabstimmung eine neue Verfassung an, die von der Junta vorbereitet wurde. Obwohl diese 1983 die Regierungsgeschäfte wieder an eine zivile Regierung zurück übertrug, blieb Evren bis 1989 Staatsoberhaupt.

Am 18. Juni 2014 wurden die damals letzten beiden noch lebenden Verantwortlichen für den Putsch, Evren und der frühere Luftwaffenkommandant Tahsin Şahinkaya, zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt und zum Rekruten degradiert. Şahinkaya ist nun 90 Jahre alt und kann das Krankenbett nicht mehr verlassen.

Der Verfassungsgerichtshof wies einstimmig Individualbeschwerden der Angeklagten zurück, die behaupteten, während des Verfahrens in ihren Rechten verletzt worden zu sein.

Als 2009 erstmals die Möglichkeit eines Prozesses gegen die Putschisten von 1980 diskutiert wurde, erklärte Evren, er würde eher Selbstmord begehen als sich einem Prozess zu unterwerfen. Später nahm der bereits schwer kranke Evren vom Krankenbett aus mittels Videokonferenz am Verfahren teil.

Auf dem Staatsfriedhof befinden sich die Ruhestätten drei weiterer Staatspräsidenten der Türkei. Diese sind die von Cemal Gürsel (1961 bis 1966), Cevdet Sunay (1966 bis 1973) und Fahri Korutürk (1973 bis 1980). Auch das Grab des früheren Ministerpräsidenten Bülent Ecevit befindet sich dort.