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Kolumnen

Was kommt nach dem Deutschsein?

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Ich kann mich an eine Situation mit meinem Vater erinnern, so klar und deutlich, als wäre es gestern gewesen. Denn dieses eine Erlebnis kehrte in meinem Leben auf unterschiedliche Weise wie ein Bumerang zurück. Dabei war es eine Nebensächlichkeit.

Mitte der 1980er Jahre, da müsste ich etwa sieben Jahre alt gewesen sein, besuchten mein Vater und ich gemeinsam mit meinen Brüdern die Neueröffnung eines Einkaufszentrums mit dem Namen „Massa“. Es war die Zeit der riesigen Selbstbedienungs-Märkte, auf deren Dächern die gewaltigen Buchstaben des Markennamens in die Höhe ragten. Ich war so beeindruckt, dass mich dieses Gefühl der Euphorie jedes Mal beschleicht, wenn ich die Einkaufszentren oder Bauhäuser besuche, die heute selbstverständlich geworden sind.

Aber mehr als das Gebäude beeindruckte mich was mein Vater über den Standort des Einkaufszentrums zu erzählen hatte. Bevor das Massa-Einkaufszentrum gebaut wurde, standen dort Wohngebäuden, in denen er als junger Mann mit seinen Freunden wohnte. Dass es sich um die Gastarbeiter-Wohnheime handelt, verstand ich Jahre später, als auf einer Ausstellung der Geschichte meiner damaligen Heimatstadt ebendiese Wohnheime thematisiert wurden. Um den Besuchern die Vorstellung zu erleichtern, wo einst diese Gebäuden standen, gab man das Einkaufszentrum in Krefeld-Oppum an, das inzwischen REAL hieß.

Als Soziologe, Trend- und Zukunftsforscher muss ich an diese Zeit immer wieder denken, wenn ich mich mit der Veränderung der deutschen Gesellschaft beschäftige. Sehr früh habe ich verstanden, dass eine Gesellschaft nicht konstant ist, sondern sich dauernd verändert. Man erkennt dies am deutlichsten an Gebäuden, Wohnungen, Straßen, Unterhaltungselektronik oder Kommunikationstechnologien. Also an Dingen, die man fassen und greifen kann.

In meiner Kolumne in Zaman AVRUPA, die ich mit diesem Beitrag eröffne, werde ich schildern, wie und in welche Richtung die deutsche Gesellschaft sich verändern wird, und dazu Beispiele aufzeigen. Eine Sache muss von vornherein verstanden werden: Veränderungen in der Gesellschaft geschehen nicht zufällig und erst Recht nicht willkürlich. Hinter dem sozialen Wandel verbirgt sich eine Gesetzmäßigkeit, ein Mechanismus, eine Logik. Sie zu erkennen und beim Namen zu nennen, ist die Aufgabe von Soziologen oder Trend- und Zukunftsforschern.

Werden die Deutschen und damit auch die deutsche Identität verdrängt?

Ich möchte gleich in ein schwieriges Thema einsteigen: Nicht nur Häuser, Straßen und Technologien verändern sich über die Zeit. Sondern auch die Menschen, ihre Werte, die sie teilen, und damit ihre Identität. Ich fange mit diesem Thema an, weil wir, die Türken in Deutschland, die kollektive Identität dieser Gesellschaft maßgeblich verändern und bereits verändert haben. Das macht einigen Menschen Angst.

2010 stieß Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ eine breite gesellschaftliche Debatte über Einwanderung und die Integration von Einwanderern an. Damit brachte er auf eine wortgewaltige Weise die Angst der Deutschen vor den Einwanderern zum Ausdruck. Eine zentrale These von ihm lautete, dass die Deutschen aufgrund des demografischen Wandels durch die Einwanderer verdrängt werden. Für diese und ähnliche Thesen hat der SPD-Politiker, der in der Vergangenheit Spitzenpositionen in Politik und Verwaltung eingenommen hat, sowohl tosenden Applaus als auch harte Kritik erhalten.

Aber ist das wirklich so? Werden die Deutschen und damit auch die deutsche Identität verdrängt?

Die Angst der Türken vor der Assimilation

Wenn man genau hinschaut, dann stellt man fest, dass die Angst vor Verdrängung, die ich den Deutschen unterstelle, auch bei den Türken existiert. Denken Sie an die Angst der Türken vor der „Assimilation“ durch den deutschen Staat. Kein Türke in Deutschland will seine ethnische, religiöse und kulturelle Identität aufgeben. Es ist doch verrückt: Die Deutschen haben Angst, und wir, die Türken in Deutschland, haben auch Angst. Dabei ist die Veränderung der kollektiven Identität einer Gesellschaft ein „normaler“ Vorgang. Die Menschen vergessen, dass die Gesellschaft, die wir heute als selbstverständlich wahrnehmen, erst über Jahrzehnte oder Jahrhunderte geformt wurde. Migration, Konflikte und Kriege waren dabei treibende Kräfte dieser Veränderung.

Ein Beispiel: Heute sitzt die SPD in der ersten Reihe der Macht und gestaltet das Land federführend mit. Vor über 150 Jahren wurde die Arbeiterbewegung, aus der die Sozialdemokratie hervorgegangen ist, als eine Gefahr der gesellschaftlichen Ordnung wahrgenommen. Ihre Vertreter und Führer wurden verfolgt und bestraft. Heute ist es anders. In 150 Jahren haben sie sich vom Rand der Gesellschaft in die Mitte der Macht bewegt.

Debatten über Verdrängung oder Assimilation einer Identität sind notwendig. Die Identität ist das Ergebnis eines dauernden Konstruktionsprozesses. Das soll heißen: Eine Identität ist weder stabil noch kohärent, sondern wird immer wieder aktualisiert. Sie ist ein laufender Prozess, der kein Ende kennt – und auch kein Ende kennen kann. Denn Identität erfüllt in einer Gesellschaft eine stabilisierende Funktion. Sie bestimmt über die Grenzen einer Gesellschaft und nachfolgend auch über die Grenzen einer Nation. Sie beantwortet die Frage, wer oder welche Gruppen ein Teil der Gemeinschaft sind. Oder im Umkehrschluss: Sie beantwortet die Frage, wer dazu nicht gehören soll.

Man denke nur an die Diskussion darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff vertrat diese Position. Dafür wurde er bejubelt, aber auch angefeindet. Joachim Gauck, sein Nachfolger, machte wiederum klar, dass nicht der Islam, aber die Muslime nach Deutschland gehören. Ein wunderbares und offensichtliches Beispiel dafür, dass es bei der Identitätsdebatte darum geht, wer Teil dieser Gesellschaft sein soll oder nicht.

Vom Türkischen zum Deutsch-Türkischen Kulturverein

Ich möchte ein anderes Beispiel aus der türkischen Community geben: Als die ersten Gastarbeiter aus der Türkei in den 1960er Jahren nach Deutschland kamen, gründeten sie recht schnell Cafés oder Kulturvereine, in denen sie sich nach der Arbeit trafen und ihre sozialen Beziehungen pflegten. Der „Türkische Kulturverein“ in den 1960er und 1970er Jahren wurde in den 1980er und 1990er Jahren zum „Deutsch-Türkischen Kulturverein“ umbenannt oder neu gegründet. Seit einigen Jahren allerdings erleben wir einen weiteren Wandel in der Selbstbezeichnung der Vereine: 2007 gründete die damalige Oberstufenschülerin Aylin Selçuk die „Deukische Generation“. Bei dem Namen handelt es sich um eine Synthese aus „DEUtsch“ und „türKISCH“. Zum ersten Mal wurden zwei Identitätsdimensionen miteinander verschmolzen. Doch dabei blieb es nicht. Sezen Tatlıcı, die zu den Gründungsmitgliedern der Deukischen Generation gehörte, trennte sich von diesem Verein und gründete mit verschiedenen Mitgliedern, deren Ursprünge in der Türkei, Russland, Italien, Ghana, Korea und weiteren Ländern jenseits von Deutschland und Europa liegen, einen eigenen Verein mit dem Namen „Typisch Deutsch“.

Über die Entwicklung des Vereinsengagements und des Vereinsnamen kann man erkennen, dass die Türken in 50 Jahren Einwanderungsgeschichte ihren mentalen wie physischen Lebensschwerpunkt vom Herkunftsland über das Ankunftsland hin zu hybriden Identitätskonzepten verschoben haben.

Das konnte der türkischen Community gelingen, weil sie Strukturen dafür geschaffen hat. Dank unserer Vereine und Verbände, Medien und Unternehmen, Schulen und Nachhilfezentren sowie Moscheen haben wir unsere Identität materialisiert.

Für die Zukunft müssen wir drei Sachen grundlegend verstehen:

Erstens, mithilfe der Debatten über Identitäten werden die Grenzen einer Gesellschaft und damit nachfolgend einer Nation neu gezogen. Daher sollten wir diese Debatten nicht als eine Belastung sondern als eine Gelegenheit auffassen, einen Teil unserer kulturellen, ethnischen und religiösen Identität dauerhaft in der kollektiven Identität dieser Gesellschaft fest zu verankern. Zweitens, nicht nur wir werden die Identität der Deutschen beeinflussen. Auch unsere Identität wird durch die Deutschen geprägt und beeinflusst. Es entsteht etwas Neues, sozusagen eine dritte Identität.

Drittens, dieser Vorgang verläuft nicht konfliktfrei. Diese Gesellschaft wird die türkische Community nicht mit offenen Armen begegnen und für uns freiwillig Platz machen. Das wird sie nicht tun, weil es sich um die Türken handelt. Sie macht es bei jeder Minderheit. Dieser Platz muss erstritten und erkämpft werden. Dafür muss die türkische Community eine Strategie entwickeln.

Kamuran Sezer, 1978, ist Leiter des futureorg Instituts, bei der es sich um eine Denkfabrik handelt, die zu gesellschaftlichem Wandel forscht und berät. Er ist zudem Gründungsmitglied der Wahlforschungsinitiative „endaX“.