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Gesellschaft

„Ich möchte meine Kinder anflehen, damit sie mich besuchen“

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Auch in der Migrantencommunity wird die Pflegebedürftigkeit von Eltern und Großeltern zunehmend ein Thema. Viele von ihnen zahlen die Zeche für das Auseinanderbrechen familiärer Bande und die Erosion traditioneller Lebensentwürfe. (Foto: dpa)

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Pflegeheim: All-Inclusive-Hotel oder Abschiebebahnhof?
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Irgendwann ist Schluss. Es folgt eine Zeit, in der man nicht mehr arbeiten und Geld verdienen muss, mit niemandem mehr konkurriert und keine großartigen Zukunftspläne mehr macht. Für manche ist das alles erst vorbei, wenn man unter der Erde liegt, doch es gibt da noch eine Vorstufe – und damit ist nicht etwa ein Komazustand gemeint. Man lebt noch ganz „normal” weiter und hat doch ein ganzes Leben hinter sich mit all seinen Höhen und Tiefen, an das man sich erinnert – oder auch nicht. Die Altersdemenz lässt grüßen. Demenz – das ist die Krankheit des Vergessens.

Aber das ist jetzt nicht das Thema. Heute geht es um das „Vergessen werden”. Diese Menschen werden zwar nicht vom Pflegepersonal vergessen, auch nicht von der Verwaltung, die Kranken- und Pflegekassen kümmern sich auch um sie, sie haben auch oft ihre eigenen rechtlichen Betreuer, die ihre behördlichen Angelegenheiten oder wahlweise auch die persönlichen Geschäfte sowie medizinischen Versorgungen erledigen. Aber: Es sind die Kinder dieser alten Menschen, die ihre Mütter und Väter in Pflegeheimen ihrem Schicksal überlassen.

Das gilt nicht für alle. Es gibt welche, die alle drei Wochen oder öfter die kranke demente Mutter oder den vom Schlaganfall heimgesuchten Vater besuchen. Es gibt aber auch Menschen im Alten- oder Pflegeheim, die keine Kinder großgezogen hatten und dies heute bitter bereuen. Doch wie groß muss erst die Reue sein, wenn man von all den Kindern vernachlässigt wird, die man großgezogen hat und die man auf ihrem beruflichen und familiären Weg begleitet hatte?

Die sind heute sehr beschäftigt, fühlen sich bei der Mama nicht mehr gut aufgehoben, müssen jetzt geben anstatt zu nehmen, woran sie nicht gewöhnt sind. Es ist eine Belastung für sie, plötzlich eine kranke Mutter zu haben, die nicht mehr kochen und backen kann, also zu nichts mehr zu gebrauchen ist oder einen Vater, der nicht mehr das Geld nach Hause bringt, der dement und pflegebedürftig ist und mit dem man nicht mehr über Fußball und Politik plaudern kann. Es hat sich einiges verändert, das Blatt hat sich gewendet. Die Eltern sind die Kinder geworden, die Aufmerksamkeit fordern, sie aber kaum bekommen.

Wäre nicht der Ramadan oder auch die Zeit im Anschluss daran eine willkommene Gelegenheit, mal was Gutes zu tun und Menschen zu besuchen, die sich sehnlichst einen Besuch erhoffen? Vielleicht wird der eine oder der andere von uns in Zukunft in der gleichen Situation sein und da ist wirklich jeder Überraschungsbesuch willkommen.

Abgeschottet von der Welt

Egal, was auf der Welt passiert, wer gewählt wurde, welche Länder gerade Krieg führen oder wo es Bürgeraufstände gibt – all das interessiert nicht mehr bzw. ist außer gedanklicher Reichweite dieser alten, pflegebedürftigen Menschen. Jeden Tag kämpfen sie mit ihren Schluckproblemen, ihrem Rollator oder Rollstuhl, täglich zielt man auf ein Erfolgserlebnis – nämlich „mal nicht ins Bett zu machen” (Inkontinenz), den Pudding problemlos herunterschlucken zu können (Schluckstörungen), einen einigermaßen verständlichen Satz von sich zu geben (Sprachlähmung aufgrund eines Schlaganfalls). Doch das, was der alten, dementen oder einfach nur pflegebedürftigen Menschen gemeinsamer Wunsch ist, ist, dass man sie besucht, ihnen etwas Aufmerksamkeit schenkt, sie mal anlächelt, streichelt… all das brauchen sie, auch wenn manche von ihnen einen nach einer halben Stunde nicht mehr wiedererkennen.

Ohnmacht oder Gleichgültigkeit?

Woher kommt eigentlich diese Gleichgültigkeit, wie macht man das mit seinem eigenen Gewissen aus? Wie kann man die Menschen vergessen, die seinerzeit die wichtigsten Personen im Leben waren? Wie kann man die Hände vergessen, die man regelmäßig zu Bayram küsste und die nun wegen eines Schlaganfalls schief geworden sind und ständig zittern. Kann man sagen: „Es ist egal, wer da kommt, meine Mutter würde mich eh nicht wieder erkennen”? Wenn Menschen stark altersdement geworden sind, können sie sogar ihre nahen Angehörigen nicht wieder erkennen. Das stimmt schon. Ist das aber ein Grund, sie selbst zu vergessen? Wärst du heute dort, wo du jetzt stehst, wenn sie dich vergessen hätten? Eher nicht.

Wir haben uns mit einigen Patienten unterhalten, die im türkischen Pflegeheim Kreuzberg (http://www.pflegehaus-kreuzberg.de) untergebracht sind.

Eine von ihnen, S. Y., 83 Jahre alt, hat nach eigenen Angaben drei Kinder, nämlich zwei Töchter und einen Sohn. Sie ist sehr stolz auf ihre Kinder und begründet deren seltenen Besuch damit: „Alle meine Kinder sind berufstätig und befinden sich in Deutschland, es ist für sie nicht leicht, hierher zu kommen”.

Auf die Frage, wo wir uns denn jetzt gerade befinden, sagt sie „Hier ist die Türkei! Weißt du das etwa nicht? Wie jetzt, du weißt nicht, dass wir hier in der Türkei sind?“ und lacht mich aus… Ein klares Zeichen für Konfetti im Kopf, aber sehr sympathisch.

Oder ein Herr B., 65 Jahre alt, seit 40 Jahren in Deutschland lebend, EU-Rentner bei Ferrari und eine Frau H., 70 Jahre alt, die seit 41 Jahren in Deutschland ist, Reinigungskraft. Beide haben eines gemeinsam: Ihre Ex-Partner leben in der Türkei und sie hier in Deutschland im Pflegeheim. Hobbies haben sie keine außer fernzusehen, auch wenn die Einrichtung allerlei zu bieten hat von Wandertagen, Gymnastik, Basteln, Kochen, Ausflüge bis hin zu Musik und Literaturvormittagen. Nur mit dem Essen sind sie nicht zufrieden, da alles ähnlich wie in Reha-Kliniken wenig gewürzt und ohne exotische Beilagen serviert wird.

Gute Ausstattung, breit gefächertes Publikum

Der Speisesaal ist sehr ansehnlich. Die Möglichkeit, beim nächsten türkischen Laden Leckereien einzukaufen ist auch gegeben, da sie über ein gesetzlich geregeltes Taschengeld zwischen 80 und 100 Euro pro Monat verfügen. Die Einrichtung ist gemischt. Es gibt demente und nicht-demente Patienten und Pflegestufen. Die Altersspanne im Pflegehaus Kreuzberg liegt zwischen 30 bis 80 Jahren.

Frau H. und Herr B. haben beide ähnliche Ziele. Sie möchte in der Türkei bei ihrem Sohn unterkommen, wo sie Pflegepersonal bekommt und Herr B. hat nur ein Ziel im Kopf: Er möchte wieder für immer in die Türkei. Seit 40 Jahren lebt er in Deutschland und hat doch seine Erinnerungen überwiegend an eine Zeit, wo er bis zu seinem 25. Lebensjahr in der Türkei gelebt hat und von Hause aus als Männerfriseur tätig war. Er bereut sehr stark, in Deutschland zu sein, seine Deutschkenntnisse sind mäßig. Frau H. hingegen findet Deutschland ganz toll, weil sie hier eine Dame geworden sei, auch ihre Kinder, die mittlerweile in der Türkei leben, seien feine Damen und Herren geworden, dafür sei sie dankbar.

Eine weitere klagt über den mangelnden Besuch seitens ihrer Angehörigen mit den Worten: „Ich möchte meine Kinder anflehen, ihre Füße küssen, damit sie mich besuchen”. Diese Worte waren der Anlass für einen zweiten Besuch, nachdem ich mit einer Gruppe junger Frauen, die eine Qualifikation im Bereich Gesundheit und Soziales machen, einen Besuch bei der Einrichtung durchgeführt hatte. Sie wollten Geschenke und Blumen mitbringen, wir blieben bei Blumen.

Die vierte Gesprächspartnerin, eine stark demente Dame (Frau G.), bekommt allerdings nie Besuch, sagt der Pfleger. Sie ist eine Deutsche und hat niemanden. „Das ist so traurig, ich mache mir jeden Tag Gedanken, was aus mir selbst würde, wenn ich alt und dement werde“, so der Pfleger, der eigentlich Geologe ist.

Einige demente Weisheiten hat uns Frau G. im Gespräch mitgegeben: „Wir sind Menschen! Ja! Aus einem gebaut, Knochen, Innerei, die Blutzellen und was dazugehört, krumme Beine, krumme Zähne, hahaha. Ich bin ein Mensch, du bist ein Mensch, wir gehen zusammen, wo wir hinwollen. Und wenn wir in den Himmel wollen, gehen wir in den Him
mel und Bumm! Aus! Ansonsten lasst uns doch bitte in Ruhe!”

Migranten als Pflegefälle in Zahlen

Das Deutsche Zentrum für Altersfragen hat in einer Prognose aus dem Jahr 2010 folgende Entwicklung beobachtet: Die Zahl der in Berlin lebenden Migrantinnen und Migranten über 65 Jahre wird sich bis zum Jahr 2020 auf 57.000 erhöhen. Der Stand von 2002 wies die Zahl der in Berlin lebenden Migranten ab 65 Jahren noch mit 23.000 auf. Diese Berechnung beinhaltet nicht die Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler sowie Eingebürgerte. Bei der Differenz zwischen den Jahren 2002 und 2020 ist das ein Anstieg von über 50 %. Somit zählen sie zu den am stärksten wachsenden Bevölkerungsgruppen in Berlin.

Für Gesamtdeutschland betrachtet liegen folgende Angaben vor: Im Jahr 2007 lebten 15,4 Millionen Menschen mit einem Migrationshintergrund in Deutschland. Das ist etwa ein Viertel der Bevölkerung. Neun Prozent von ihnen sind 65 Jahre alt und älter. Oder anders betrachtet: 8,4 Prozent der über 64-jährigen Bevölkerung Deutschlands verfügt über einen Migrationshintergrund, 37 Prozent davon über eine ausländische Staatsangehörigkeit. [1]

Neben den Sprachbarrieren und Informationsdefiziten über das Gesundheitssystem sind auch die zusätzlichen Belastungen von Migranten im medizinischen Bereich erforscht worden. Die Wahrnehmung von Krankheiten bei Migranten im Gegensatz zur einheimischen Bevölkerung fällt stärker aus, weil Migranten eine höhere Vulnerabilität aufweisen, die eine Folge von besonderen Beanspruchungen, Belastungen und Risiken im Migrationsprozess sind. [2]

Hierbei werden soziale, psychische und körperliche Belastungen zu körperlichen Leiden transformiert. Es zeigen sich Wandlungen von psychischen Befindlichkeitsstörungen zu körperlichen Symptomen.

Die oft unqualifizierten Tätigkeiten, die körperlich anstrengend waren, wurden meist durch Gastarbeiter besetzt. Viele von ihnen sind nicht in die Heimat zurückgekehrt und bezeichnen Berlin heute als den Lebensmittelpunkt und Platz, an dem sie alt werden wollen, vor allem auf Grund der Nähe ihrer Kinder und Enkelkinder. [3]

Dass die zweite bzw. dritte Generation der Gastarbeiterfamilien über bessere Deutschkenntnisse verfügt als die Eltern bzw. Großeltern, bringt ihnen zusätzliche Aufgaben ein wie das Dolmetschen, das Begleiten zu Ämtern und nicht zuletzt die Verpflichtung, sich mit dem Gesundheits- sowie Altenhilfesystem in Deutschland auszukennen. Oft ist das eine völlige Überforderung für Angehörige, weil sie keine Vorbilder haben, sondern in dieser Situation „Pionierarbeit” leisten müssen. [4]

Aus diesem Grunde werden türkische Migranten im System der Altenhilfe künftig eine nicht unbeachtliche Rolle spielen. [5]

Quellen:
[1] Volker Brinkmann: Case Management, Organisationsentwicklung und Change Management in Gesundheits- und Sozialunternehmen, 2. Auflage, Wiesbaden, 2010, S. 33
[2] T. Ratajczak, Chr. M. Stegers, Globalisierung in der Medizin, der Einbruch der Kulturen in das deutsche Gesundheitswesen, Berlin, 2005, S. 2
[3] www.destatis.de (Bevölkerungsstand und Bevölkerungsentwicklung, gesichtet am 4.5.2010)
[4] Familien kultursensibel pflegen, Ministerium für Arbeit und Soziales, Mainz, 2008, S. 17
[5] Zeman, Peter: Ältere Migrantinnen und Migranten in Berlin, Expertise im Auftrag der Senatsverwaltung, Deutsches Zentrum für Altersfragen, 2002