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Politik

Der Zorn der Straße

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Die Aufbruchstimmung des Arabischen Frühlings ist verflogen. Tunesien hat mit innen- und sicherheitspolitischen Problemen zu kämpfen. Darunter leidet der Reformprozess. (Foto: reuters)

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Nach dem Tod des Oppositionspolitikers Mohamed Brahmi machen Demonstranten ihrem Unmut auf den Straßen Tunesiens Luft. Die Kluft zwischen religiösen und säkularen, zwischen progressiven und gegenrevolutionären Kräften wächst. Doch anders als in Ägypten sucht die Regierung in Tunis den offenen Dialog. Im Dezember sollen Neuwahlen stattfinden.

Tunesien hat in den vergangenen Jahren einiges geleistet. Seit dem Sturz des Diktators Ben Ali 2011 hat die moderat-islamistische Ennahda-Regierung Meilensteine auf dem Weg zu einem neuen politischen System zurückgelegt: Freie Wahlen nach 23 Jahren Diktatur, die Einrichtung einer verfassungsgebenden Versammlung, eine ungekannte Presse- und Meinungsfreiheit und ein Reformprozess in den Bereichen Justiz, Bildung, Wirtschaft und Steuergesetzgebung.

Zugleich macht sich in der tunesischen Gesellschaft eine gewisse Revolutionsmüdigkeit breit. Die Lebensumstände der meisten Tunesier verschlechtern sich. Dringende politische und ökonomische Entscheidungen und tiefergehende Reformen werden durch politische Querelen verzögert. Die Opposition fordert die Ablösung der Regierung und die Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung. Die Stimmung ist aufgeheizt.

Straßenschlachten in Tunis und Sidi Bouziz

Seit mehreren Tagen protestieren Anhänger und Gegner der Regierung gegeneinander. In der Nacht zum Montag kam es in Tunis und Sidi Bouziz, der Heimatstadt des getöteten Oppositionellen Mohamed Brahmi, zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. In Sidi Bouziz, im Zentrum des Landes, setzte die Polizei Wasserwerfer gegen steinewerfende Jugendliche ein. Nach der Ermordung Brahmis am vergangenen Donnerstag hatte sich die politische Krise dramatisch verschärft.

Zuvor waren bei einem Angriff auf tunesische Sicherheitskräfte acht Soldaten getötet worden. Die Regierung erklärte, dass die Opfer in der Nähe der algerischen Grenze in einen Hinterhalt gerieten. Der Überfall ereignete sich demnach in einer Region, in der die Armee verstärkt gegen Islamisten vorgehe. In staatlichen Medien war von einem Terroranschlag die Rede.

Ennahda-Regierung kündigt Neuwahlen und Verfassungsreferendum an

Als Reaktion auf die politische Krise und angesichts der anhaltenden Gewalt im Land kündigte die tunesische Regierung Neuwahlen an. Der 17. Dezember wurde als Wahltermin genannt. Einen vorzeitigen Rücktritt seiner Regierung schloss Ministerpräsident Ali Larayedh allerdings aus. Auch die Auflösung des Parlaments lehnt die Ennahda-Partei kategorisch ab.

Am Tag der Wahl soll ebenfalls über die neue Verfassung abgestimmt werden. Fast ein Drittel der 217 Abgeordneten boykottiert jedoch die verfassungsgebende Versammlung. Es besteht die Gefahr, dass das Gremium bei weiteren Abgängen nicht mehr beschlussfähig ist. Auch im Parlament lassen fast 70 Abgeordnete ihre Mandate ruhen.

Regierung signalisiert Gesprächsbereitschaft

Tunesiens Islamisten schlugen indes vielfach versöhnliche Töne an. Der stellvertretende Ministerpräsident Noureddine Bhiri rief eigens eine Pressekonferenz ein, auf der er Gesprächsbereitschaft signalisierte. „Es gibt keine Alternative zum Dialog“, sagte er. Bhiri warnte außerdem vor „einer Zerstörung“ politischer Institutionen wie der verfassungsgebenden Versammlung. „Keiner kann wollen, dass Tunesien zu Ägypten oder Somalia wird.“

Trotz aller Probleme, trotz der angespannten politischen und sicherheitspolitischen Lage: Der Transformationsprozess geht in Tunesien weiter. Der Dialog zwischen den Konfliktparteien ist als Zeichen für einen politischen Wettbewerb zu sehen. Die Gewalt im Land ist bedenklich, darf aber die demokratischen Prinzipien und Institutionen der Politik nicht in Frage stellen.