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Kolumnen

Türke mit deutschem Pass? Was denn sonst!

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Assimilation stellt das Zukunftsideal dieser Gesellschaft dar. Nur wird diese anders aussehen, als man darunter gemeinhin versteht. Denn der Türke wird nicht zum Deutschen. Im Gegenteil – ein neues Wir ist im Begriff zu entstehen! (Foto: reuters)

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Türke mit deutschem Pass? Was denn sonst!
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Im Zusammenhang mit meinem Beitrag „Die deutsche Demokratie ist schwach” wurde mein Bekenntnis, ein „Türke mit deutschem Pass” zu sein, im Kommentarbereich umstritten diskutiert und in einigen Blogs auch kritisch rezensiert. Dieser Reflex der Mehrheitsgesellschaft ist vielen Menschen mit einem so genannten Migrationshintergrund lange schon bekannt und wird als Instrument der Ausgrenzung wahrgenommen. Denn es stellt sich nun mal die Frage: Wie sollte ich überhaupt je ein „Deutscher” werden können?
Mein Verantwortungsgefühl gegenüber Deutschland ist größer.
Türkisch ist meine Muttersprache, mit der ich aufgewachsen bin. Wenn ich meiner Mutter meine Zuneigung ausdrücken möchte, dann tue ich das in türkischer Sprache. Möchte ich meinem Vater meinen Respekt bezeugen, so schüttele ich ihm nicht die Hand oder umarme ihn. Nein, ich verbeuge mich vor ihm und küsse ihm die Hand, auf die ich zügig meine Stirn absetze. So bekundet nämlich ein junger türkischer Mann seinen Respekt gegenüber Älteren.
Und denke ich an die Türkei, so denke ich an den ruhmreichen türkischen Befreiungskrieg nach dem Ersten Weltkrieg, in welchem meine Großelterngeneration große Opfer für die Unabhängigkeit und Freiheit des Landes erbracht hat. Die Integrität und Souveränität der Türkei zu wahren, ist daher meine Pflicht. Mein Verantwortungsgefühl gegenüber Deutschland ist dabei viel größer.
Ich muss kein Deutscher werden, um anzukommen.
Denn ich befinde mich in einer unzertrennlichen Symbiose mit dieser Gesellschaft. Meine Familie, meine Freunde und Kollegen leben hier. Ihr Wohlbefinden berührt unmittelbar mein Befinden und bestimmt mein Handeln. Werden in der Türkei die Steuern erhöht, dann betrifft es mich nicht. Wenn aber die Qualität der Gesundheitsversorgung in Deutschland sich verschlechtert, dann bin ich besorgt um die Menschen, die ich liebe. Das Wohl dieses Landes hängt also unmittelbar mit meinem Egoismus hinsichtlich Sicherheit, Wohlstand und Gesundheit zusammen!
In der Schule und später im Studium habe ich die Geschichte dieses Landes und Europas studiert. Einiges davon lehne ich vehement ab und ich will nicht, dass es sich wiederholt. Anderes hat mich tief beeindruckt und geprägt! Und in der Gegenwart gestalte ich mit meiner Denkfabrik diese Gesellschaft auf dem Weg in die Diversität Tag für Tag aufs Neue mit.
Kurz: Ich bin Türke mit deutschem Pass und lebe bereits hier und wirke am Wohl dieser Gesellschaft tagtäglich mit. Ich muss kein „Deutscher” werden, um hier anzukommen oder als angekommen zu gelten!
Woran soll ich mich beim Deutschwerden orientieren?
Und woran sollte ich mich beim „Deutschwerden” denn überhaupt orientieren? Am Rheinländer mit seinem bunten Karnevalsfest? Oder am Bayern, der sich auf dem Oktoberfest Bierkrüge schwingend amüsiert? Oder am vermeintlich knausrigen Schwaben, der einem den Weg erklärt, obgleich man ihn um etwas anderes gebeten hat? Das sind Stereotype – keine Frage! Entsprechend wenig eignen sie sich aber auch als Lebenslotsen für den vermeintlich orientierungslosen Migranten, den man gerne auf seinem Weg der Deutschwerdung erleuchten möchte. In Wahrheit beheimatet die deutsche Gesellschaft unzählige Lebensstile und Lebenskonstruktionen, die in Milieus und Lebenswelten eingerahmt sind.
Die Sozialstrukturforschung kennt dabei Dutzende Bezeichnungen für diese Lebensformen: Der Traditionelle, der Kleinbürgerliche, der Alternative, der Konsummaterialistische, der Hedonist, der Aufsteiger, der Selbstverwirklicher. Im Lichte dieser Vielfalt haben sich in der Integrationsdebatte ebenso unterschiedliche Menschen so mannigfaltig zu Wort gemeldet, dass einem nur schwindelig werden konnte. Jeder, der von sich etwas hält, meldete sich zu Wort und legte dem gemeinen Migranten sein eigenes Lebenskonzept als nachahmenswert und erstrebenswert nahe.
Sie nerven!
Und dann kommen sie angelaufen mit ihren gut gemeinten Handreichungen: Die Feministin, die unbedingt die unterdrückte muslimische Frau aus ihrem Stoffkäfig befreien will. Der nostalgische Technokrat, der analysierte, wie dumm und rückständig Menschen außerhalb Europas sind, es sei denn, sie sind Christen. Der väterliche Lokalpolitiker aus dem Kleinbürgertum, der aus seiner Dienstlimousine heraus teilnehmende Beobachtungen durchführt, um später zu verkünden, dass Neukölln überall wäre. Die anti-religiöse Schwulencommunity, die sich um die körperliche Unversehrtheit von muslimischen und jüdischen Kindern religionseifriger Eltern besorgt zeigte, weswegen sie die Pflicht zum unbeschnittenen Penis einforderten. Inzwischen gibt es auch noch eine Deutschlandstiftung Integration, die in ihrem kürzlich herausgegebenen Bewerbungsratgeber muslimischen Frauen tatsächlich empfiehlt, das Kopftuch unbedingt abzusetzen, wenn diese sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt etablieren möchten.
Ich möchte es kurz und schmerzlos machen: Sie alle nerven gewaltig!
Ein neues Wir entsteht.
Ich brauche sie nicht. Ihre Ratschläge sind verzichtbar. Egal, von wem sie kommen: Vom linken Gutmenschen über den mit einer Lehrerin verheirateten Leiter einer Versicherungsagentur bis hin zum rechtskonservativen Volkstümler, die allesamt bemüht zu sein scheinen, mir bei meiner Integration zu helfen. Und die meisten von ihnen haben dabei gar keine Vorstellung davon, wie schön es ist, ein Türke in diesem Land zu sein – mit unserer Gastronomie, unseren Theatern und Künstlergruppen, unseren Kultur- und Sportvereinen, unseren Familienfesten, unseren Unternehmen, unserer Literatur und unseren Schulen. Von München über Stuttgart, Frankfurt am Main, Köln, über das Ruhrgebiet bis nach Berlin, Hamburg und Bremen haben wir ein Spinnennetz aus kulturellen, sozialen und ökonomischen Knotenpunkten gesponnen, mittels wessen wir uns nicht nur des Lebens freuen, sondern auch unsere eigenen Probleme lösen und unsere Zukunftspläne schmieden.
Der Türke wird nicht zum Deutschen! Der Türke repräsentiert inzwischen einen eigenen Lebensstil, der die soziostrukturelle Zusammensetzung der Mehrheitsgesellschaft unzertrennlich ergänzt. Er wird sich nicht in einer volkstümlichen deutschen Ursuppe bis zur Unkenntlichkeit auflösen. Er verschmilzt mit der deutschen Gesellschaft: Das Deutsche wird das Türkische prägen wie das Türkische das Deutsche verändern wird – strukturelle Assimilation nennen Soziologen diesen Vorgang. Die Sarrazinsche These, wonach Deutschland sich abschaffe, wird nicht eintreten. Vielmehr wird ein neues Wir entstehen, dessen Konturen wir heute bereits sehr deutlich erkennen können.
Sie zweifeln daran!? Dann bedenken Sie, dass Sie diesen Meinungsbeitrag eines in Deutschland aufgewachsenen Türken in deutscher Sprache bis zum Schluss gelesen haben – meine Worte haben Ihren Kopf erreicht, die Berührung hat also schon stattgefunden.
Kamuran Sezer, Jg. 1978, ist Leiter des Dortmunder futureorg Instituts, eine Denkfabrik für Diversity und gesellschaftlichen Wandel.