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Panorama

Türkei 2014: Ein Jahr der Extreme

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Die erste Hälfte des Jahres 2014 war bestimmt von der Korruptionsaffäre und dem Kampf der AKP-Regierung gegen eine vermeintliche „Parallelstruktur“. Der Wahlkampf heizte die Stimmung im Land zusätzlich an. Ein Rückblick. (Foto: cihan)

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Bergarbeiter bergen in Soma einen Kumpel aus dem Unglücks-Schacht.
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Für die Türkei endet das Jahr 2014 so, wie es begann: mit einem innenpolitischen Erdbeben. Am 17. Dezember 2013 wurden die Korruptionsermittlungen bekannt. Die AKP-Regierung nutzte die kommenden Monate nicht dazu, die schweren Vorwürfe aufzuklären. Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ließ vielmehr ermittelnde Polizeibeamte und Staatsanwälte zwangsversetzen. Noch heute spricht er von einer „Parallelstruktur“, die sich gegen seine Regierung verschworen habe und die es zu bekämpfen gelte.

Der Kampf der türkischen Regierung gegen diesen vermeintlichen „inneren Feind“ prägte die Türkei das gesamte Jahr hindurch. Erdoğan – mittlerweile türkischer Staatspräsident – bediente sich dabei einer äußerst aggressiven Rhetorik und beendete das Jahr 2014 mit einem Schlag gegen mehrere regierungskritische Medien, die der Hizmet-Bewegung nahe stehen sollen. Der Chefredakteur der Tageszeitung Zaman, Ekrem Dumanlı, der Leiter der Sendergruppe Samanyolu, Hidayet Karaca, und weitere Journalisten wurden festgenommen. Sie sollen Teil der sog. „Parallelstruktur“ sein und außerdem einer Terrororganisation angehören.

Hier ein Rückblick über die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2014 in der Türkei.

Im Januar 2014 steht das gesamte Land noch im Zeichen der am 17. Dezember bekannt gewordenen Korruptionsermittlungen, die mehrere prominente Persönlichkeiten im wirtschaftlichen Umfeld der Regierung, aber auch in der Regierung selbst und in der Verwandtschaft mehrerer führender politischer Verantwortungsträger betroffen haben. Vier Minister waren in diesem Zusammenhang wenige Tage nach Bekanntwerden der Ermittlungen zurückgetreten.

Auf Korruptionsermittlungen folgen Zwangsversetzungen von Ermittlern

Mehr als 20 Personen waren in Untersuchungshaft genommen wurden, nachdem ihnen unter anderem vorgeworfen worden war, staatliche Ausschreibungen beeinflusst zu haben, Schmiergelder für Stadterneuerungsprojekte angenommen und organisiert zu haben, Baugenehmigungen in geschützten Gebieten gegen die Bezahlung von Bestechungsgeldern erhalten zu haben, Ausländern mithilfe falscher Dokumente den Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit ermöglicht zu haben und in mehrere Fälle von Betrug, Fälschungsdelikten und Goldschmuggel involviert zu sein.

Bereits im April 2013 soll der Geheimdienst den damaligen Premierminister Erdoğan vor zweifelhaften Kontakten einiger seiner Minister gewarnt haben – Konsequenzen gab es jedoch keine.

Die türkische Regierung reagierte auf die Ermittlungen mit einer Gegenoffensive und wies Vorwürfe breit angelegter Korruption zurück. Erdoğan witterte einen Racheakt von Anhängern der vom in den USA lebenden Islamprediger Fethullah Gülen inspirierten Hizmet-Bewegung.

AKP: Kampf gegen den „Parallelstaat“

Ankara warf der Hizmet-Bewegung vor, systematisch Justiz und Polizei unterwandert zu haben und von dort aus gezielt die Regierung zu sabotieren. Dies hätte sich nach Ansicht Erdoğans auch daran gezeigt, dass ein Staatsanwalt in Adana die Durchsuchung eines Lkws angeordnet habe, der auf dem Weg nach Syrien war und Waffen transportiert haben soll. Dabei kam es zu Befehlsverweigerungen von Sicherheitsbeamten und Handgreiflichkeiten. Der Geheimdienst MİT, auf den Erdoğan zunehmend seine Macht stützt, soll den Transport initiiert und begleitet haben.

Die türkische Zentralbank erhöht den Leitzins in einer historischen Entscheidung von 4,5 auf 10%, um dem Währungsverfall entgegenzuwirken.

Im Februar 2014 nimmt die Regierung den Kampf gegen den so genannten „Parallelstaat“ zum Anlass, mehrere sensible Gesetze zur inneren Sicherheit zu überarbeiten. So baut Erdoğan etwa den türkischen Geheimdienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) zu einem Machtinstrument aus. Im Zuge eines Gesetzespaketes wird auch ein Gesetz zur Entscheidungsgewalt über den Geheimdienst verabschiedet. Der Geheimdienst bekommt quasi einen Sonderstatus und unterliegt fortan direkt dem Staatspräsidenten. Außerdem wird ein strengeres Internet-Gesetz verabschiedet und eine Justizreform sichert der Regierung einen stärkeren Zugriff auf den Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte (HYSK). Der damalige Präsident Abdullah Gül äußert gegen einzelne Teile der Gesetze Vorbehalte, unterzeichnet diese am Ende aber doch.

Währenddessen verschärft sich im Vorfeld der im März 2014 angesetzten Kommunalwahlen das innenpolitische Klima. Im Polizei- und Justizapparat werden tausende Beamte versetzt oder ihrer bisherigen Befugnisse enthoben. Bei den meisten von ihnen soll es sich um vermeintliche oder tatsächliche Anhänger der Hizmet-Bewegung handeln. Einige der betroffenen Beamten sollen im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen eine nach Ansicht der Regierung erfundene Terrorgruppe namens „Tawhid Salam“ mehrere tausend Personen willkürlich abgehört haben. Jedoch liegen über Terrorakte dieser Gruppierung, die starke Verbindungen in den Iran hat, belastende Urteile von Revisionsgerichten vor.

Abhörskandale als Vorwand für Einschränkung sozialer Medien

Gleichzeitig werden – teils von Personen aus dem direkten Umfeld der Regierung – illegal aufgezeichnete Tonbandaufnahmen von Regierungspolitikern über die sozialen Medien und Presseorgane veröffentlicht. Die genauen Quellen der Urheber sind nicht bekannt. Die Regierung hingegen nutzt die Veröffentlichungen, um ihre These, wonach es Parallelstrukturen im Staatsapparat gäbe, zu stützten. Eine Verbindung zur Hizmet-Bewegung konnte jedoch bis heute nicht nachgewiesen werden.

Erdogan bei einer Militärparade. Er fährt stehend in einem offenen Auto eine Standarte der türkischen Streitkräfte entlang. (cihan)

Im Februar 2014 nimmt die Regierung den Kampf gegen den so genannten „Parallelstaat“ zum Anlass, mehrere sensible Gesetze zur inneren Sicherheit zu überarbeiten. So baut Erdoğan etwa den türkischen Geheimdienst Millî İstihbarat Teşkilâtı (MİT) zu einem Machtinstrument aus.

Auf Grund der Verbreitung illegaler Inhalte lässt die Telekommunikationsbehörde jedoch über mehrere Wochen hinweg soziale Netzwerke wie Twitter und YouTube in der Türkei sperren. Nachdem Erdoğan in der ersten Phase durch Zwangsversetzungen und neue Gesetze die Grundlage für härteres Durchgreifen gelegt hatte, geht er nun gegen soziale Medien vor.

Kommunalwahlen 2014 mit AKP-Triumph

Die Kommunalwahlen bringen dann einen unerwartet deutlichen Wahlsieg für die regierende Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung; AKP). Die Regierung konnte gegenüber dem Wahlergebnis im Jahre 2009 noch einmal deutlich zulegen und holte über 40% der Stimmen. Neben der AKP kann auch die prokurdische Barış ve Demokrasi Partisi (Partei für Frieden und Demokratie; BDP) als Wahlsieger gewertet werden, da sie vor allem in ihren Hochburgen in Südostanatolien ihre Position stabilisieren und zum Teil noch weiter ausbauen.

Im Bezirk Meram (Provinz Konya) wird mit Fatma Toru (AKP) die erste Frau mit Kopftuch zur Bürgermeisterin gewählt. Vereinzelte Stromausfälle in einigen Wahllokalen während der Stimmenauszählung führt Energieminister Taner Yılmaz darauf zurück, dass streunende Katzen Trafostationen eingenommen hätten. Wahlmanipulation ist das prägende Thema nach den Wahlen. Die Gerichte stellen im Laufe des Jahres fest, dass es in einigen Wahlbezirken tatsächlich zu Wahlbetrug kam.

Während Premierminister Erdoğan den Wahlsieg als Mandat betrachtete, die Korruptionsermittlungen niederzuschlagen und vernichtend gegen Hizmet-Bewegung vorzugehen, bekommt er mit dem Vorsitzenden der militant linksnationalistischen İşçi Partisi (Arbeiterpartei; IP),  Doğu Perinçek, einen neuen Verbündeten. Perinçek und weitere zum Teil hohe Militärs wurden im  Zusammenhang mit der Terrorstruktur Ergenekon erstinstanzlich verurteilt. Den Ergenekon-Prozess hatte Erdoğan noch vor wenigen Jahren als einen wichtigen Schritt zur Demokratisierung der Türkei gewertet.

PKK und AKP: Wie ernst meinen sie es mit dem Friedensprozess? 

Unterdessen werden im April 2014 33 Terrorverdächtige der terroristischen KCK zu den ersten Profiteuren der Justizreform. Sie kamen auf freien Fuß, weil ihre Untersuchungshaft die dort gesetzlich festgeschriebene Höchstdauer überschritten hatte.

Der Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der terroristischen PKK hält trotz kleinerer Zwischenfälle. Einem Bericht verschiedener türkischer Sicherheitskräfte zufolge rekrutierte die PKK seit Beginn des Friedensprozesses jedoch über 2000 neue Kämpfer. Demnach verfügt die PKK auch 2014 noch über Kampfeinheiten in der Türkei.

Im Mai 2014 wird im Parlament ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Korruptionsaffäre beschlossen. Der Ausschuss wird von der AKP-Mehrheit dominiert, sodass es bis zur offiziellen Einstellung des Verfahrens im Oktober zu keinen Sitzungen des Ausschusses kommt.

Unterdessen kündigt Erdoğan eine „Hexenjagd“ gegen vermeintliche oder tatsächliche Angehörige der sog. „Parallelstruktur“ im Staatsapparat an.

Menschen formen ein Herz und das Wort "Soma", um an das Unglück zu erinnern. (cihan)

Das Bergwerkunglück in Soma überschattet jedoch schon bald die politische Situation im Land. Dort sterben nach einer Explosion und einem Brand in einem Stollen des Bergwerks insgesamt 301 Bergleute.

Bergwerkunglück in Soma erschüttert die Türkei

Das Bergwerkunglück in Soma überschattet jedoch schon bald die politische Situation im Land. Dort sterben nach einer Explosion und einem Brand in einem Stollen des Bergwerks insgesamt 301 Bergleute. Die türkische Regierung ordnet eine dreitägige Staatstrauer an, landesweit kommt es zu Solidaritätskundgebungen mit den Bergarbeitern. Es kommt zu mehreren Verhaftungen im Umfeld der Betreibergesellschaft. Die Regierung gerät wegen der schlechten Arbeitsbedingungen und Vetternwirtschaft im Umfeld der Bergwerkunternehmen in die Kritik.

Im Juni 2014 kündigt Erdoğan an, eine Wiederaufnahme der Strafverfahren gegen Angehörige der Streitkräfte anzustreben, die im Zusammenhang mit dem „Balyoz“-Putschplan 2012 in erster Instanz verurteilt worden waren.

Erdoğan schließt nicht aus, dass die so genannte „Parallelstruktur“ im Zuge des Verfahrens ihren Einfluss innerhalb der Justiz ausgenützt hätte, um gegen die Generäle vorzugehen. Auf der Basis der Justizreform kommen zum Ende des Monats mehr als 230 „Soldaten Atatürks“ aus dem Balyoz-Prozess auf freien Fuß. Aus alten Gegnern hat Erdoğan neue Verbündete gemacht.

Unterdessen rückt die Terrormiliz „Islamischer Staat“ im Irak und in Syrien vor und nimmt zum Teil kampflos weite Landstriche und die Millionenstadt Mossul ein. Dabei werden 49 Menschen, davon 46 Türken, in der türkischen Botschaft als Geiseln genommen.