Politik
„Die Hizmet-Bewegung leitet aus der Religion keine Ideologie ab“
Der Nahost-Experte Udo Steinbach sieht in der Hizmet-Bewegung eine Bewegung, die sich als eine moralische Instanz in der Gesellschaft verstehe und auf Demokratisierung setze. (Foto: cihan)
Sowohl in Deutschland als auch in der Türkei findet eine kontroverse Diskussion darüber statt, was die Hizmet-Bewegung ist und welche Rolle ihr im gesellschaftlichen Wandel in der Türkei zukommt. Der Nahost-Experte und langjährige Beobachter der türkischen Innenpolitik Udo Steinbach sieht in der Bewegung eine Kraft, die die im Volk verankerte traditionelle Religiosität für modernes soziales Engagement mobilisiere. Dieses Engagement finde überwiegend in Bildungsprojekten ihre Verwirklichung, so Steinbach, und ergänzt: „Auch wenn die Bewegung in der Türkei, teilweise auch in Deutschland, dämonisiert wird – mir macht die Hizmet-Bewegung keine Angst.“
Erdoğan baut immer wieder neue Feindbilder auf. Bei den Gezi-Protesten waren es die Demonstranten und bei dem aktuellen Korruptionsskandal ist es die Hizmet-Bewegung. Wie schätzen sie die Rolle der Bewegung ein?
Als Außenstehende ist es für uns schwer einzuschätzen, was die Rolle von Fethullah Gülen und der Hizmet-Bewegung in der türkischen Innenpolitik ist. Es ist auch nicht möglich darüber zu urteilen, welche Staatsanwälte oder Teile der Sicherheitsbehörden von der Bewegung dominiert werden. Offen gesagt halte ich es auch für wenig relevant, solange Menschen sich an rechtsstaatliche Prinzipien halten. Über religiöse Überzeugungen und Bindungen zu religiösen oder nichtreligiösen Persönlichkeiten zu urteilen, ist nicht die Aufgabe des Staates. Die Hizmet-Bewegung leitet aus der Religion keine Ideologie ab. Sie mobilisiert die im Volk verankerte traditionelle Religiosität für modernes soziales Engagement. Dieses Engagement findet überwiegend in Bildungsprojekten ihre Verwirklichung. Auch wenn die Bewegung in der Türkei, teilweise auch in Deutschland, dämonisiert wird – mir macht die Hizmet-Bewegung keine Angst.
Wieso nicht?
Sie steht für einen unpolitischen Islam und hat nicht das Ziel, eine gesellschaftspolitische Ordnung auf der Grundlage des islamischen Rechts aufzubauen. Die Hizmet-Bewegung steht für den Versuch, Menschen zu motivieren, aus der Gläubigkeit heraus erfolgsorientiert zu handeln, um die Gesellschaft mitzugestalten.
Erdoğan hat dieser Bewegung den Krieg erklärt, bekämpft sie nicht nur in der Türkei, sondern weltweit und scheint dabei auch ziemlich erfolgreich zu sein.
Wenn überhaupt ist das ein Pyrrhussieg, den er gegen die Bewegung errungen hat. In dem Ausmaß, in dem seine Härte zunimmt, steigt auch die Wahrscheinlichkeit seiner Niederlage. Angehörige der Bewegung, die an bestimmten Stellen in der Bürokratie sitzen und durch die Strafversetzungen Benachteiligungen erfahren, werden weiter versuchen, sich zu wehren. Erdoğans Reaktion darauf wird sein, autokratischer zu handeln. Ich kann nicht voraussagen, wann und wieso, aber diese Strategie der Härte und Unterdrückung wird er nicht unbegrenzt lange aufrechterhalten können.
Warum hat Erdoğan nicht versucht, die Hizmet-Bewegung in seine neue Machtstrategie einzubeziehen? Sowohl die AKP als auch die Bewegung sind doch im Sunnitentum verankert und haben eine ähnliche sozio-kulturelle Prägung.
Das gehört zu den Geheimnissen von Erdoğans Machtstrategie. Warum er tatsächlich den Pfad der de-facto Koalition mit der Hizmet-Bewegung verlassen hat und mit seiner Polarisierungspolitik die Gesellschaft spaltet, um somit eine autokratische Herrschaft zu etablieren, hat keine plausible Erklärung. Die Ereignisse sind noch frisch. Um diesen Wandel erklären zu können, muss vielleicht noch etwas Zeit vergehen.
Wieso hat die Hizmet-Bewegung dieses Machtspiel nicht mitgemacht? Wieso hat man sich nicht hingesetzt und gesagt, „Wir einigen uns jetzt darauf, eine autokratische islamische Türkei zu errichten und teilen die Pfründe der Macht unter uns auf“?
Die Hizmet-Bewegung ist letztendlich eine Bewegung, die auf Demokratisierung setzt und sich mehr als eine moralische Instanz in der Gesellschaft versteht, denn als einen machtpolitischen Akteur.