Connect with us

Kolumnen

Die Türkei, Erdoğan und Deutschland

Published

on

Spread the love

Die Debatten in Deutschland verlaufen aufgeregt. Eine Wohlstandsgesellschaft, die von keinen allzu großen Sorgen geplagt wird, neigt zu Übertreibungen, zu obsessiver Beschäftigung mit Themen, die kommen und gehen. Die Politik befindet sich in der Winterpause, umso mehr beherrschen sogenannte „Experten“ die öffentlichen Debatten. Zu dem einen großen Thema, das die Republik seit Wochen beschäftigt, Stichwort Pegida, ist beinahe alles gesagt worden, zu einem anderen erstaunlich wenig, nämlich wie es mit der Türkei weitergehen wird.

Ungläubig, wie im Falle von Putins Russland, verfolgen wir die Entwicklung, die das Land nimmt, dessen Megacity Istanbul – die größte Stadt des Kontinents – den Brückenschlag zwischen europäischer und nahöstlicher Welt versinnbildlicht. Die Silhouette der Stadt wird von Besuch zu Besuch westlicher, während die türkische Politik diesem Teil der Welt zunehmend den Rücken kehrt. Gewaltenteilung, demokratische Rechte, die Unabhängigkeit der Presse, haben in der Türkei in den letzten eineinhalb Jahren stark gelitten. Aber noch sind Einsicht, Umkehr möglich. Aber dringen entsprechende Signale an das Ohr des Mannes, der sich selbst in den Sattel gesetzt und mit einem geradezu märchenhaften Palastbau sich zu Lebezeiten ein Denkmal für die Ewigkeit geschaffen hat?

Und wieder lautet die entscheidende Frage: haben wir, die Europäer das Nötige getan, mit diesem bedeutenden Land, mit dem türkischen Präsidenten, mit Recep Tayyp Erdoğan im Gespräch zu bleiben? Die Antwort mag manchen überraschen: mit den Russen ist vergleichsweise mehr gesprochen worden. Die Türkei wird hier und da nicht so ganz ernst genommen, wegen ihrer offensichtlichen Demokratiedefizite, wegen des in europäischer Sicht verlorengegangenen Großmachtstatus, wegen vermeintlicher Rückständigkeit außerhalb der großen Städte, aber auch wegen des neuen Tons, den Erdoğan angeschlagen hat. Er darf polemisch sein, er darf ausländische Politiker auch attackieren, aber er muss alles dafür tun, ernst genommen zu werden. Das fängt bei historischen Vergleichen und Aussagen an, die stimmen müssen, weil sie nachprüfbar sind. Ein Politiker benötigt nicht nur Glaubwürdigkeit, er bedarf auch der Sachautorität. Er kann international nicht den Versuch unternehmen, das zu tun, was ihm daheim weiterhin zu gelingen scheint, nämlich zu „überreden“. Außerhalb der Türkei bekommt man dafür keinen Beifall.

Wie wirkt sich Erdoğans Politik auf die Türken in Deutschland aus?

Wie auch immer die innenpolitische Entwicklung der Türkei weitergehen wird, sie wird Auswirkungen auf Europa haben. Eine unbeabsichtigte Folge der neuen Politik Erdoğans könnte sein, dass der Gülen-Bewegung in Westeuropa endlich der Stellenwert und die Anerkennung zufließt, die sie verdient. Nach den Verhaftungen von Journalisten gab es am Verlagsgebäude von Zaman in Istanbul eindrucksvolle Szenen. Nicht nur Gülen-Anhänger protestierten dort, sondern Menschen aller politischen Schattierungen, denen es um eines geht: um Gedankenfreiheit und das Recht, diese zu äußern. Der politische Druck, der von Erdoğan aufgebaut wird, könnte am Ende die persönliche Entscheidung vieler Menschen beschleunigen, sich auf Deutschland vollends einzulassen, seine Stärken anzuerkennen und über das hinwegzusehen, was als Defizit oder Mangel im neuen Heimatland angesehen wird.

Eine sich zunehmend autokratisch gebärdende Türkei wird ungeachtet aller berechtigten Kritik ein wichtiger Akteur in den internationalen Beziehungen bleiben. Mag sich manche auf Berlin emotional wirkende Einschätzung und Entscheidung, die in Ankara getroffen wird, am Ende als falsch herausstellen, viele berechenbare und vor allem stabile Akteure in dem Raum, der an die Türkei grenzt, gibt es nicht mehr. Die Türkei bleibt also wichtig. Es kommt daher in vielen Fragen darauf an, diese Nation mit ihren 80 Millionen Menschen als Partner am Konferenztisch zu haben, Kompromisse mit ihr zu erzielen. Ein besonders starker Hebel dürfte für Erdoğan jetzt und in kommender Zeit die türkische Flüchtlingspolitik sein. Noch dient das Land quasi als Vorfluter für Europa, noch trägt es zusammen mit einigen Anrainern von Syrien und dem Irak die Hauptlast der Ströme, die diese beiden Länder – vielleicht für immer – verlassen. Aber das muss nicht so bleiben. Und dann werden die Anforderungen an Europa, an Deutschland zweifellos wachsen, nicht nur hierzulande, sondern auch in der kriegsgeplagten Region.