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Politik

Die Neue Türkei zwischen Vision und Propaganda

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Ist Europa wirklich neidisch auf Erdoğans ‚Neue Türkei‘? Oder ist das nur Propaganda? Letzteres scheint eher der Fall zu sein, aber das ist auch nicht wirklich verwunderlich. Denn europäische Staaten gehen nicht anders vor.

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ANALYSE Die Welt ist neidisch auf die Türkei. Sie baut den größten Flughafen der Welt. Das trifft besonders die Deutschen. Denn der Frankfurter Flughafen wird durch den Istanbuler Flughafen entwertet. Ja, die Deutschen sind neidisch, die Briten auch, die Franzosen so oder so. Die Amerikaner, die die Schutzmacht der Israelis sind, sind auch auf die Türkei neidisch. Der kranke Mann vom Bosporus war gestern. Wir, Türken, die Enkel der Osmanen sind wieder wer! Und der Rest der Welt will das jetzt verhindern!

Ist das wirklich so? Ist der Westen neidisch auf die aufstrebende Macht Türkei und auf ihren Flughafen?

Der Istanbuler Flughafen ist in der Tat ein visionäres und zukunftsweisendes Projekt. Es gehört Mut und unternehmerisches Engagement, das die Leistungsfähigkeit und Kreativität einer ganzen Nation erfordert. Aber die Behauptung, die Welt sei neidisch auf die Türkei und wolle den Bau des Flughafens verhindern, ist hohle Propaganda.

Reichweite von Passagierflugzeugen nimmt zu

Der Flughafen in Istanbul ist aus zwingenden ökonomischen, demografischen und technischen Gründen sinnvoll aber auch rentabel. In den 1940/50er Jahren betrug die Reichweite von Passierflugzeugen etwa 3.000 km. Ein Flugzeug, das von London nach New York fliegen wollte, machte in Island einen Zwischenstopp. So bildete London damals einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt. In den 1980/90er Jahre konnten Passierflugzeuge bis zu 9.000 km fliegen. Ein Flugzeug, das in London startete, brauchte keine Zwischenlandung mehr, um nach New York zu gelangen. Dank dieser Reichweite konnten auch Direktflüge von Amsterdam, Paris oder Frankfurt angeboten werden. So hat sich auch der Knotenpunkt für den Luftverkehr in dieser Reihenfolge verschoben. Heute können moderne Passagierflugzeuge Strecken von über 15.000 km absolvieren. Flugzeuge, die in Istanbul starten, können ganz bequem New York im Direktflug erreichen. Infolgedessen konnte sich Istanbul über die vergangenen Jahre als zentraler Verkehrsknotenpunkt etablieren. Denn von dieser großartigen Stadt, die zwei Kontinente verbindet, kann man New York genauso gut erreichen wie Dubai oder Shanghai.

Auch der demografische Wandel spielt eine Rolle. Flugzeuge transportieren Waren und Personen. Um es mal sehr einfach auszudrücken: Wo wenig Menschen sind, können auch weniger Menschen transportiert werden. Wo weniger Menschen sind, werden auch weniger Waren benötigt. Europa hat ein gewaltiges Demografie-Problem, das aber die Türkei zeitversetzt auch erreichen wird. Aber das liegt in der Zukunft, ist also nicht akut. Es macht aus ökonomischen, demografischen und technologischen Sachzwängen also sehr viel Sinn, dass Istanbul ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt wird und damit Paris und Frankfurt ablöst. Mit dem größten Flughafen der Welt wird diesen Sachzwängen Rechnung getragen. So einfach ist es eigentlich.

Neid ist Propaganda, aber in Ordnung

Dass die Welt auf die Neue Türkei neidisch ist, ist daher blanke Propaganda der türkischen Staatsführung. Aus der regierungspolitischen Perspektive betrachtet ist das aber in Ordnung. Denn auch Deutschland und Großbritannien und Frankreich machen Propaganda für sich. Sie heben ihre Industrie, ihre Kulturgüter und Reichtümer hervor, um Stärke und Überlegenheit zu demonstrieren. Das lockt Menschen, Waren und Kapital an. Propaganda ist sozusagen ein „legitimes“ Marketing für Staaten und Regierungen.

Nur haben wir im Rahmen der Gezi Park-Proteste im Sommer 2013 und der Korruptionsaffäre vom Dezember 2013 auch zugleich erlebt, dass Propaganda für politische Zwecke missbraucht wird und eine gesamte Gesellschaft destabilisieren kann. Recep Tayyip Erdoğan, und das wird immer offensichtlicher, hat bewusst in der türkischen Bevölkerung eine Massenhysterie ausgelöst, um sich und seine Macht zu schützen. Er hat quasi die Massen schützend vor sich geschoben, in dem er auf den Neid der Welt, seine Wahlerfolge, die ihn zur Staatsführung legitimieren, und auf die sicht- und quantifizierbaren Fortschritte in der Lebensqualität hingewiesen hat.

Erdoğan und seine drastischen Maßnahmen

Aber jede Propaganda wird von der Realität eingeholt und auf den Prüfstand gestellt. Der Neid der Welt auf die Türkei konnte genauso wenig bestätigt werden, wie die Behauptung Erdoğans, dass fremde Mächte über Parallelstrukturen versuchen, das Schicksal der Türkei zu beeinflussen. Schlimmer noch: Durch drastische Maßnahmen hat er versucht, seinen Behauptungen einen Wahrheitsgehalt zu verleihen. Dabei hat er nicht gescheut, die Verfassung zu biegen und in manchen Fällen sogar zu brechen. Er hat in Kauf genommen, dass sein eigenes Volks polarisiert wird. Während ich die Zeile schreibe, schlagen sich die Volksvertreter im türkischen Parlament mit Stühlen und Fäusten wortwörtlich die Köpfe ein.

Kurz: Eine aufstrebende Nation braucht Visionen, die glaubwürdig propagiert werden müssen. Doch wird die Propaganda eingesetzt, um die Interessen eines einzelnen Menschen oder nur Wenigen zu dienen, dann führt dies zwangsläufig zu einem politischen, sozialen und ökonomischen Versagen, wie wir ihn in diesen Tagen in der Türkei erleben. Daher ist es wichtig, dass die Bürger einerseits wissen, dass Staaten Propaganda betreiben und die Öffentlichkeit bewusst manipulieren wollen. Das machen alle Länder. Dahinter muss keine böswillige Absicht stecken. Andererseits aber sollten Bürger aufmerksam jede Propaganda anzweifeln und sich die Frage stellen, wem diese Propaganda dient.

Und die türkische Diaspora in Deutschland und in Europa?

Sie wäre ein wichtiger Leuchtturm, sowohl für Europa als auch die Türkei. Denn sie ist privilegiert: Sie kann beide Regionen sowohl aus dem Inneren als auch von außen beobachten und bewerten. Sie kann verstehen, wie die Türken und die Muslime außerhalb Europas auf diese bedeutende Weltregion schauen. Sie kann auch verstehen, wie Europäer auf die Türkei und die islamische Welt schauen. So besitzt sie privilegierte Informationen, die sie nutzen kann, um Menschen, Ideen und Kulturen zusammenzuführen. Voraussetzung dafür ist aber Objektivität und Fairness im Dialog.