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Kolumnen

Türkei: Eskalation im Innern erreicht ihren Höhepunkt

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Im Sommer 2013 begann es mit Gezi, über die Korruptionsaffäre im Dezember desselben Jahres ging es weiter und schließlich der Wahlmarathon vom März 2014 bis November 2015. Wir gegen euch, ich gegen euch. Entweder ihr seid für mich, oder ihr seid gegen mich.

In diese Zeit fielen der Abbruch des Friedensprozesses mit der PKK und unzählige Terrorangriffe. Hunderte Menschen sind gestorben, Freitagnacht kamen noch einmal fast zweihundert hinzu.

Die Türkei erlebt einen Ausnahmezustand und es ist davon auszugehen, dass dieser bald auch faktisch ausgerufen wird.

Ein Putsch ist vehement zu verurteilen. Er muss bestraft und gesühnt werden. Doch Rechtsstaatlichkeit in der Türkei ist längst nicht mehr gegeben. Für alles gibt es einen Schuldigen, der per se feststeht. Mal ist es die PKK, mal der IS – aber häufig die Parallelstruktur. Eine Organisation, die im Hintergrund agieren soll und die niemand so recht kennt. Die Regierung übernimmt nie die Verantwortung. Es gab in den letzten Jahren nicht einen Rücktritt.

P wie Parallel

Mit der „Parallelstruktur“ ist die Bewegung von Fethullah Gülen gemeint, die sich gegen das undemokratische Vorgehen Erdoğans wehrt. Nach dessen Geschmack mit unrechten Mitteln. Sie soll wichtige Posten im Staat besetzt haben und nach der Pfeife des im US-Exil lebenden Predigers tanzen. Dieser streitet das vehement ab. Es gibt keine geregelten Gerichtsverfahren. Anhänger werden einfach verhaftet, Institutionen zerschlagen. Gleichzeitig erschafft Erdoğan seine eigene Parallelstruktur: Justiz, Polizei, Medien und nun wohl auch das Militär – alle werden gleichgeschaltet und mit eigenen Anhängern besetzt.

Gülen hat sich mehrmals von den Vorwürfen distanziert. Falls es tatsächlich eine Struktur gebe, die in seinem Namen agiere, solle diese „verdammt“ sein, erklärte er mehrmals. Falls seine Anhänger aber zu Unrecht beschuldigt würden, möge die Regierung wiederum verdammt sein.

Die Bewegung war Erdoğan-Befürworter, aber auch Erdoğan-Kritiker. Es ging dabei nie wirklich um die Person Erdoğan, sondern um die Werte, die er mit seiner Politik vertrat.

Es ist ein außerordentlich bemerkenswerter Zwist, der für Außenstehende schwer zu verstehen ist. Auf der einen Seite eine Bewegung, die in ihrer Größe und Stärke schwer zu erfassen ist, auf der anderen Seite eine Regierung und ein Mann, die immer stärker werden. Die Bewegung hat die Putsche des vergangenen Jahrhunderts stets kritisiert, war auch oft selbst im Visier der Putschisten. Die Ereignisse der letzten drei Jahre, das kann man so sicher unterschreiben, haben aber auch ihr schwer zugesetzt, und ihre undurchsichtigen Strukturen führen dazu, dass auch die Anhänger oft selbst nicht wissen, woran sie sind.

Niemand ist unfehlbar

Längst zieht sich diese Spaltung quer durch die Gesellschaft. Familien und Freundschaften zerbrechen daran. Erdoğans Strategie scheint aufzugehen. Seine Gegner lehnen ihn immer stärker ab, aber seine Anhänger vergöttern ihn zunehmend. „Sag es und wir töten, sag es und wir sterben“ rief die Menge heute Morgen, als er sich ihr zeigte. Niemand soll sterben. Niemand ist unfehlbar. Weder Erdoğan, noch Gülen, noch Atatürk, noch sonstwer.

Der Putsch, wenn er denn einer sein sollte, ist dilettantisch gescheitert. Und das ist gut so. Wer waren beziehungsweise sind die Militärs, die sich gegen Erdoğan aufgelehnt haben? Wir werden es vermutlich nie erfahren.

Trotz einiger schlimmer Zwischenfälle lehnten die weitgehend friedlichen Menschen, und das ist erfreulich, einen Putsch ab. Wir müssen jetzt schnellstens dazu übergehen, die Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden. Was Erdoğan, der absolute Machthaber und in einem Ausnahmezustand auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte aus dem Putschversuch machen wird, bleibt abzuwarten. Sieht man sich seine Strategie seit Gezi an, bleiben nicht viele Möglichkeiten.