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Kolumnen

Türkei kein Vorbild mehr für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie

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Die Türkei ist wohl doch kein Vorbild für die islamische Welt. Das Land sei auch kein Beispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie. Das denken Politikwissenschaftler wie Prof. Ersin Kalaycıoğlu von der Sabanci Universität in Istanbul.

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Die Türkei ist kein Vorbild mehr für die muslimische Welt, auch kein Beispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie. Der Politikwissenschaftler Prof. Ersin Kalaycıoğlu von der Sabanci Universität in Istanbul sagte, dass man nun anstatt der Türkei nach Tunesien schauen müsse um sich ein Bild von der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie zu machen. Diese Feststellung fiel auf der Veranstaltung von der Tageszeitung Zaman Avrupa, die in Kooperation mit der Humboldt-Viadrina Governance Platform am vergangenen Freitag in Berlin stattfand.

An der Veranstaltung nahmen um die 50 Multiplikatoren aus den Bereichen Politik, Wissenschaft, Medien und der Zivilgesellschaft teil. Moderiert wurde die Veranstaltung im ersten Teil von Michael Thumann von der ZEIT und von Prof. Udo Steinbach im zweiten Teil.

Die Eröffnungsreden hielten die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth, Prof. Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform und dem Chefredakteur von Zaman Avrupa, Dursun Çelik, gehalten.

Die Veranstaltung mit dem Titel ’Deutsch-Türkische Beziehungen im 21. Jahrhundert’ wurde in diesem Jahr zu dritten Mal veranstaltet.

Wenn in diesen Tagen eine Veranstaltung zum Thema Türkei stattfindet, liegt es nahe, auch auf die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ein Licht zu werfen. So geschah es auch.

AKP hat Verteidigungs-Strategie von Putschisten kopiert

Wieso kam es zu der Auseinandersetzung zwischen der Erdoğan-Regierung und der Gülen-Bewegung? Orhan Kemal Cengiz, Kolumnist und Menschenrechtsanwalt aus Izmir meinte, die AKP hätte ihre Verteidigungstaktik von den Ergenekon-Aktivisten kopiert. Diese Gruppe, denen wegen Putsch-Versuch der Prozess gemacht und allesamt verurteilt wurden, verteidigten sich mit dem Argument, „Wir sind unschuldig und haben mit Putschgedanken überhaupt nichts zu tun. Die angeblichen Beweise wurden in Wahrheit von Kräften innerhalb der Polizei platziert, die der Gülen-Bewegung nahestehen.“

Nach Orhan Kemal Cengiz hat sich die AKP genau so verteidigt, in dem sie sagte, „Wir haben mit Korruption überhaupt nichts zu tun. Die angeblichen Beweise, die Geldzähl-Maschinen, Geldscheinen in Schuhkartons in Millionenhöhe und ähnliches wurden in Wahrheit von Kräften innerhalb der Polizei platziert, die der Gülen-Bewegung nahestehen.“ So konnte man in bedrängter Situation auf etwas anderes zeigen und die Aufmerksamkeit von sich ablenken.

Politischer Islam hat Erdoğan gerettet

Und warum wurde diese Taktik erfolgreich, obwohl die Beweise der Korruption eindeutig waren? Diese Frage beantwortet Orhan Kemal Cengiz mit dem Hinweis auf den politischen Islam: Die Tatsache, dass Erdoğan diese immensen Anschuldigungen überstanden hat, verdanken wir dem politischen Islam. Die AKP-Leute haben gedacht: Wir haben ein großes Projekt. Wir haben eine einmalige Chance erhalten, unser Projekt umzusetzen. Korruptions-Geschichten sollten dieses Projekt jetzt nicht zunichtemachen.

Über den Stand der politischen Entwicklung äußerte sich Prof. Ersin Kalaycıoğlu desillusioniert. Für Kalaycıoğlu ist die Türkei kein Vorbild mehr für die islamische Welt. Mehr noch: Die Türkei ist mittlerweile kein gutes Bespiel mehr für die Bejahung der Frage, ob denn Islam und Demokratie überhaupt zusammenpassten.

Keine Neue Türkei, ein Neuer Erdoğan

Das einzige Beispiel in der islamischen Welt für die Bejahung dieser Frage sei zur Zeit Tunesien. Für Kalaycıoğlu hat die Bevölkerung der Türkei kein großes Verlangen nach Demokratie. In der Prioritäten-Skala rangiere an erster Stelle der Geldbeutel. In der türkischen Gesellschaft gebe es auch keine Mittelschicht. Es fehle zudem oben eine Aristokratie und unten ein Proletariat. Den größten Block bilde die Schicht des Lumpen-Proletariats in den Städten, eine Bevölkerungsschicht, die den ländlichen Regionen ihren Rücken gekehrt hat, nicht ganz urbanisiert ist und die auch vielfach für das Leben nicht beruflich qualifiziert ist. Die AKP alimentiere diese Gesellschaftskriese und diese bildeten einen festen Block der AKP-Wählerschaft.

Ersin Kalaycıoğlu sieht auch keine „Neue Türkei“, sondern einen neuen Erdoğan. Erdoğan übertrete tagtäglich die Verfassung und stünde er heute vor Gericht, würde ihm der Prozesse gemacht werden – mit der Forderung einer Gefängnis-Strafe von 287 Jahren. Das Problem bestehe darin, dass Erdoğan, wenn er die Macht verieren würde, entweder ein Gerichtsprozess oder die Flucht ins Exil erwarte. Von daher versuche er alles, seine Macht zu behalten und den Staat so umzukrempeln, dass ihm nachher nicht der Prozess gemacht werden kann.

Das Land aber bleibe die Alte. Strukturelle Probleme der Türkei wie Kapitalbildung, Energie-Abhängigkeit vom Ausland und Humankapital sind nach wie vor ungelöst.

Hat Deutschland überhaupt eine Türkei-Politik?

Vertreter der Grünen bei der Europäischen Union rückten einen anderen Aspekt des Problems ans Licht. Nach der Feststellung Ali Yurttagüls gehe ein tiefer Riss durch den konservativen Block, der in Europa kaum wahrgenommen wird. Dabei wäre die Türkei ohne diese Spaltung viel schneller in den Faschismus abgedriftet.

Ali Yurttagül bemängelt, dass die Europäer und auch die Bundesregierung ihre Instrumente der Einflussnahme auf die türkische Politik nicht nutzen und fragte sich, ob die Europäer und die Bundesregierung überhaupt eine Türkei-Politik haben. Nach Meinung Yurttagüls sollten die Europäer gerade in diesen Zeiten, wo nacheinander sehr problematische Gesetze durch das türkische Parlament durchgepeitscht werden, bei den Beitrittverhandlungen in die EU Kapitel wie beispielsweise Rechtsstaat eröffnet und die Türkei daran erinnert werden, was die Vorstellungen hier sind und was man von der Türkei erwarte. Europa bleibe aber passiv.