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Politik

Türkei: Undemokratischer Machtkampf der AKP erreicht Aleviten und Linke

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Was bezwecken Erdoğan und die AKP mit dem Kampfbegriff „Parallelstaat“? Stimmen, die darin einen Vorwand für die Errichtung eines autokratischen Systems sehen, mehren sich. Nun klagen auch die Aleviten. (Foto: zaman)

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Recep Tayyip Erdogan redet am Mikrofon. Im Hintergrund die türkische Fahne zu erkennen.
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Seit fast nunmehr einem Jahr führt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und die AKP-Regierung einen Kampf gegen die Hizmet-Bewegung. Das Zauberwort dabei heißt „Parallelstaat“. Auch wenn der Begriff nicht genau definiert ist und als Strafbestand in das türkische Strafgesetzbuch nicht aufgenommen wurde, ist er DAS politische Instrument der Adalet Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP), um Kritiker mundtot zu machen.

Eben mit dem Vorwurf, die Bewegung hätte einen eigenen „Parallelstaat“ aufgebaut, mittels dem sie gegen die legitime Regierung vorgehe, erlässt die AKP-Regierung neu Gesetze, welche die Bürgerrechte einschränken, setzt neue Gerichtsbarkeiten ein deren Rechtsstaatlichkeit fragwürdig ist, versetzt Polizisten, Lehrer und andere Beamte, nur auf Grund der Annahme, sie seien Sympathisanten des muslimischen Predigers Fethullah Gülen.

Zudem nutzt Erdoğan fast jeden nationalen und internationalen Auftritt als Gelegenheit, um auf die Gefahr (!) des „Parallelstaates“ hinzuweisen. So rief er während seiner Rede am 20. November 2014 bei dem 2. Türkisch-Afrikanischen Gipfel für Zusammenarbeit in Äquatorialguinea die Regierungen der afrikanische Länder auf, ihn bei seinem Kampf gegen „alle gefährlichen Organisationen, die behaupten, sich freiwillig für die Bildung einzusetzen, jedoch dies als Maske nutzen“, zu unterstützen.

Kampfbegriff Parallelstaat: Welche Strategie verfolgt Erdoğan?

Geht es tatsächlich um die Unterwanderung des Staates durch die Hizmet-Bewegung oder führt Erdoğan unter dem Vorwand, die Bewegung zu bekämpfen, einen Krieg gegen alle oppositionelle Gruppen? Lenkt er damit die Aufmerksamkeit auf ein für die politische Machtbildung unwesentlichen Nebenschauplatz, um von der Korruptionsdebatte abzulenken und die „Neue Türkei“ unter seiner absoluten Herrschaft zu errichten?

Es mehren sich Stimmen, die sagen, dass es Erdoğan und der AKP nicht um die Bekämpfung der Hizmet-Bewegung geht, sondern um alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die sie als Bedrohung für ihre Macht empfinden. Eine Macht, die sie zwar mehr oder weniger über demokratische Mittel erlangt, jedoch mit allen – auch undemokratischen – Mitteln behalten wollen.

Die oppositionelle Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP) und andere Parteien klagen über die Einmischung von Erdoğan in parteiinterne Angelegenheiten über den Geheimdienst MİT. Der CHP-Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu geht soweit, dass er den türkischen Geheimdienst mit Hitlers Gestapo vergleicht. Der stellvertretende Vorsitzende derselben Partei, Veli Ağababa, sagte in einer Fernsehsendung, dass das Grundproblem der Türkei die Diskriminierung seitens des Staates sei: „Gegen die Gemeinde (Hizmet-Bewegung) hat die Regierung eine Operation durchgeführt, bei der es um die Schulleiter ging. Das Ziel dieser Operation war jedoch nicht die Gemeinde, sondern die Säuberung von alevitischen und linken Schulleitern. Es wurden ca. 7 000 Schulleiter des Amtes verwiesen. Ausgenommen von einigen Ortschaften, die von Aleviten bewohnt werden, gibt es kaum Schulen, die von alevitischen Schulleitern geleitet werden.“ Ağababa stellte die rhetorische Frage, ob denn alle Aleviten „dumm“ seien und setzte fort: „In den 81 Provinzen gibt es keinen einzigen alevitischen Gouverneur oder einen einzigen alevitischen Polizeipräsidenten.“

Religiöse Wählerschaft unzufrieden mit AKP

Neben den politischen Parteien klagen zunehmend auch sunnitische Gruppen, religiöse Orden und islamische Bewegungen, die lange Jahre als Basis der AKP galten, über staatliche Diskriminierung. Der Vorsitzende der Furkan-Stiftung, Alparslan Kuytul, sieht in der AKP Tendenzen, die mit ihrer Gründungsphilosophie nichts mehr zu tun hätten und erklärt auf der Homepage der Stiftung: „Auch wenn die AKP-Regierung sich als eine Partei mit einer einzigen Idee und Ideologie zeigt, so besteht sie doch aus Menschen mit verschiedenen Ideen und Lebensauffassungen. Dies ist die Folge der Notwendigkeit, eine Partei des Zentrums zu sein, um möglichst viele Stimmen zu bekommen, was jedoch auch einige Probleme mit sich bringt.“

In einer Videoaufzeichnung macht Kuytul deutlich, was er mit Problemen meint: „Ich sagte, falls die AKP uns den Krieg erklärt hat, so soll derjenige, der vom Krieg flieht, ehrenlos sein. Auch heute vertrete ich diesen Standpunkt. Derjenige, der vom Krieg flieht, ist ein Feigling, ein Ehrenloser. Falls wir einen Schritt zurücktreten sollten, so soll Allah uns verfluchen.“

Die Stiftung bekommt seit einigen Wochen keine öffentlichen Räumlichkeiten für ihre Veranstaltungen mehr und muss deswegen auf private Säle ausweichen. Auch Mitglieder der Ismailağa-Gemeinde um Scheich Mahmut Ustaosmanoğlu kritisieren zunehmend die AKP-Regierung. Regierungsnahe Kreise sprechen offen über den Vertrauensverlust der AKP unter der religiösen Wählerschaft. Der neue Chefberater des Premierministers Ahmet Davutoğlu, der armenischstämmige Journalist Etjen Mahçupyan, sagte in einem Interview mit dem Nachrichtensender Al-Jazeera Türk, dass etwa die Hälfte der religiösen Wählerschaft glaube, die AKP-Regierung sei in Korruption verwickelt: „Sie sind von der AKP enttäuscht. Sie sagen, dass dies nicht in das Image einer Partei wie der AKP passe und sehen es als etwas, was eine Partei, die sie unterstützen, nicht tun sollte.“

Kemalisten haben Religion bekämpft, AKP instrumentalisiert sie

Der Chefredakteur der hizmetnahen Tageszeitung Zaman-Deutschland spricht von der „Transformation der AKP von einer Volks- zu einer Staatspartei“: „Die AKP spricht von einer neuen Türkei. Das, was wir jedoch beobachten, ist die alte Türkei in einem neuem Gewand. Früher waren es die Kemalisten, über die alle klagten: Muslime, Aleviten, Sunniten, Kurden und religiöse Minderheiten. Heute beobachten wir dasselbe Phänomen, nur mit einem Unterschied: Nicht die Kemalisten stehen für den autoritären und antidemokratischen Staat, sondern die neuen politischen und bürokratischen Eliten um den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie sind nicht gegen den Islam, wie es die Kemalisten waren, sondern instrumentalisieren ihn für Wahl und Propaganda.“