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Kolumnen

Türkei-USA-Deutschland: Erst die Wahrheit, dann die Freiheit

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Es ist keine sechs Monate her, dass es in diesem Land eine erregte Debatte gab. Es ging um schreckliche, in ihrem Umfang nie ganz aufgeklärte Vorgänge in der Türkei, die gut 100 Jahre zurückliegen. Der Deutsche Bundestag verabschiedete aus diesem Grunde – mit einiger Verspätung – eine Armenien-Resolution, von der sich die Bundesregierung nach absehbarem Protest und Drohungen aus Ankara halbwegs distanzierte. Umso entsetzter und fassungsloser muss man unter solchen Umständen über das Schweigen der deutschen Bundesregierung und das Wegschauen der deutschen Gesellschaft angesichts der aktuellen Ereignisse in der Türkei sein. Mit hohem Tempo, in der Entwicklung beinahe vorhersehbar, steuert Präsident Erdoğan sein Land ins Chaos, haben hunderttausende von Menschen ihre Existenzgrundlage verloren. Die Anträge von zwei, drei Dutzend Mitgliedern der türkischen Botschaft in Berlin stellen somit nur die Spitze eines Eisberges dar, der aus Anhängern von Oppositionsparteien, entlassenen Staatsbeamten, Hochschullehrern, Soldaten, Studenten und vielen anderen Menschen besteht, die bis vor kurzem die Hoffnungsträger einer nach Westen gewandten Türkei waren. Nirgendwo auf der Welt befinden sich so viele Journalisten in Haft wie in der Türkei. Aber nur einer Handvoll von ihnen ist es vergönnt, ihre Verzweiflung hinauszuschrei(b)en. Hört ihnen jemand zu?

Ich bin soeben voller Sorge von einer sechswöchigen USA-Reise zurückgekehrt. Am meisten treibt mich umher, dass in dem schrecklichen Fernseh-Wahlkampf die Wahrheit auf der Strecke geblieben ist. Es ist zu keinem Zeitpunkt gelungen, auf der Basis von Fakten zu argumentieren. Donald Trump konnte allabendlich seine Schimpfkanonaden gegen Hillary Clinton starten. In Deutschland hat man derartiges zum letzten Mal in den Wahlkämpfen am Ende der Weimarer Republik gehört. Weder vor Ort noch in den Fernsehstudios gelang es, ein Gesprächsniveau aufzubauen, bei dem in Ruhe Pro und Contra-Argumente ausgetauscht wurden. Entsprechend groß war die Verwirrung beim Wahlvolk. Fernsehsender wie Fox News haben am Ende erfolgreich Gehirnwäsche betrieben. Diejenigen, die an die Kraft des Wortes glauben, an das bessere Argument, sind einer Illusion beraubt worden, eine halbe Nation eines Landes mit starken demokratischen Traditionen hat sich unanfechtbaren Tatsachen verschlossen.

Längst hat der Kampf um die Wahrheit auch bei uns begonnen, und dass sie mitunter auf der Strecke bleibt, dass sie den vermeintlichen politischen Sachzwängen zum Opfer fällt, ist nicht nur im Falle der heutigen Türkei offenkundig. Auch die Regierungszeit von Angela Merkel bietet ein gutes Beispiel für die eingetretenen Veränderungen, für den Verlust an Pressefreiheit. Die Auftritte der Kanzlerin sind durchgeplant, inszeniert, so gut wie nichts ist spontan, undenkbar, dass sie sich den Fragen von Reportern stellen würde, die ihr beim Betreten oder Verlassen eines Gebäudes auflauern. Überraschungen, überraschende Antworten gibt es nur dann, wenn die Kanzlerin in eine Situation gerät, die sie nicht kontrollieren kann, etwa, wenn ihr Kinder beim Besuch einer Schulklasse Fragen stellen. Genauso sind die Talk-Fernsehrunden genauestens ausbalanciert, Überraschungen auch deswegen ausgeschlossen, weil die Teilnahme von einem halben Dutzend Diskutanten an einer 45-minütigen Sendung eine sichere Garantie dafür ist, dass nichts vertieft werden kann und somit haften bleibt. Wer jenseits des Mainstreams argumentiert, muss damit rechnen, in sogenannten sozialen Netzwerken von anonymen Kritikern beschimpft und beleidigt zu werden. „Shitstorm“ lautet der verharmlosende Begriff für diese Form des mittelalterlichen Prangers in der Gegenwart.

Zur Krise der Berichterstattung, des politischen Proporzes in den öffentlich-rechtlichen Medien, kommt die Existenzkrise des Berufsstandes im Printbereich hinzu, die durch die neuen Medien nicht ausgeglichen werden kann. Auch sie trägt dazu bei, dass die Spielräume der Journalisten nicht größer, sondern kleiner werden. Viele wandern in den PR-Bereich ab, in dem es Jobs gibt und der bezeichnenderweise mittlerweile größer ist als der klassische Bereich der Medien.

Viel wird somit vom Verhalten der Gesellschaft abhängen, von der kritischen Öffentlichkeit, die wachsam sein muss, damit aus der politischen Berichterstattung keine PR-Veranstaltung wird, die – wie im US-Wahlkampf geschehen – das Wahlvolk in Gläubige und Ungläubige teilt. Die Zuspitzung und Emotionalisierung, der Auftritt des vor einem Jahr noch undenkbaren Trump, haben sicherlich zur Folge gehabt, dass sich auch Außenakteure wie Russland in diesen Wahlkampf eingemischt haben, dass sie versucht haben, das Ergebnis zu beeinflussen. Da viele Anzeichen dafür sprechen, ist davon auszugehen, dass derartigen Einflussnahmen auch hierzulande stattfinden. Der Kampf um die Köpfe der Menschen, nicht nur der Deutschtürken, ist längst entbrannt, noch haben die unabhängigen Medien eine Chance.