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Politik

Türkisches Parlament auf dem Weg zur Selbstentmachtung

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Das türkische Parlament hat gestern in der ersten Abstimmungsrunde für die Aufhebung der Immunität eines Viertels seiner Mitglieder gestimmt. Die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit wurde jedoch verfehlt. Jetzt wird über Abweichler und den „Verrat“ der CHP debattiert.

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Die Große Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi, TBMM) hat mit einer breiten Mehrheit für eine vorübergehende Verfassungsänderung gestimmt, durch die mehr als einem Viertel ihrer Abgeordneten die Immunität entzogen werden soll. Die für eine sofortige Umsetzung notwendige Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen wurde jedoch nicht erreicht. Die entscheidende Abstimmung erfolgt erst am Freitag. Sollte das Wahlergebnis dann ähnlich ausfallen wie gestern, wird die vorläufige Verfassungsänderung zur Volksabstimmung gestellt.

536 der 548 stimmberechtigten Abgeordneten im Parlament nahmen an der geheimen Abstimmung teil. Von ihnen sprachen sich 348 für und 155 gegen die Verfassungsänderung aus, 8 enthielten sich, 25 Stimmen waren ungültig. Die Zustimmung von 367 Parlamentariern ist notwendig, um die Verfassungsänderung direkt umzusetzen, ab 330 Stimmen kann der Entwurf in einem Referendum dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.

Viel wird seitdem über das Zustandekommen des Ergebnisses diskutiert. Die Fraktion der Republikanischen Volkspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi), die zu Beginn ihre Zustimmung signalisiert hatte, hat sich gestern mehrheitlich gegen den Entwurf ausgesprochen. Viel wird in regierungskritischen türkischen Medien aber auch über mutmaßliche Abweichler aus den Reihen von AKP und MHP spekuliert. Laut dem linken Nachrichtenportal diken habe es mindestens fünf von ihnen gegeben.

Beobachter und politische Analysten sind sich einig, dass der Entwurf, den die regierende Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) eingebracht hat, ein politischer Schachzug gegen die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker HDP (Halkların Demokratik Partisi) ist. Entsprechend griffen die ‚Pool-Medien‘, also sie regierungstreue Presse in der Türkei, auch die CHP nach der Parlamentsabstimmung heftig an und bezichtigten sie, „den Terror zu unterstützen“, weil sie sich nicht für eine Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der HDP ausgesprochen habe. Laut AKP-Lesart ist die HDP lediglich der verlängerte Arm der Terrororganisation PKK. Darüber hinaus wurde Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu des Verrats bezichtigt, weil er noch vor einigen Tage davon sprach, den Entwurf zu unterstützen.

Tritt die Verfassungsänderung in Kraft, sind davon 138 Abgeordnete aus allen vier im Parlament vertretenen Parteien betroffen. Die 59 Personen starke HDP-Fraktion würde jedoch am stärksten in Mitleidenschaft gezogen: Gegen 50 HDP-Abgeordnete liegen polizeiliche Vorermittlungen vor, größtenteils wegen Propaganda für oder gar Mitgliedschaft in einer Terrororganisation.

Um dem Vorwurf vorzubeugen, man wolle ausschließlich gegen die HDP vorgehen, hatte die Regierungspartei der Aufhebung der Immunität aller Abgeordneten zugestimmt, gegen die polizeiliche Vorermittlungen vorliegen. Daraus könnten sich auch mögliche Abweichler erklären lassen: Abgeordnete, die ins Fadenkreuz der Justiz geraten könnten und deshalb gegen die Aufhebung ihrer Immunität sind. Auch gegen 51 Parlamentarier der CHP, 27 der AKP und 7 der MHP liegen solche Vorermittlungen vor. Der Zustand des türkischen Rechtsstaats und die Art der erhobenen Vorwürfe lässt die meisten Beobachter zu dem Schluss kommen, dass vor allem AKP- und MHP-Politiker weniger zu befürchten haben als die HDP-Abgeordneten.

Bei der HDP wiederum ist der Fall klar: Sie lehnt den Entwurf entschieden ab. Laut Parteichef Selahattin Demirtaş handelt es sich dabei um eine „Putsch-Agenda“, die Erdoğan verfolgt, um die prokurdische Partei zu kriminalisieren und sie so aus dem Parlament zu drängen. Damit wäre er einen großen Schritt weiter auf seinem Weg zur Einführung eines auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems.

Tatsächlich wurde bereits einmal auf einem ähnlichen Weg eine prokurdische Partei aus dem türkischen Parlament geworfen: 1994 wurde sechs Abgeordneten der Demokratiepartei die Immunität entzogen, die Partei kurz darauf verboten und mehrere ihrer Abgeordneten zu Gefängnisstrafen verurteilt. Eine davon war Leyla Zana, die heute für die HDP im Parlament sitzt und ebenfalls von der Aufhebung der Immunität betroffen wäre.