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Kolumnen

Das Schönwettermodell Europa

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Jahrzehntelang blieb der alte Kontinent von Kriegen und Unruhen unberührt. Die Krise in der Ukraine zeigt, dass dies sich in Zukunft schnell ändern kann. Hinter dem Konstrukt Europa stehen Fragezeichen. (Foto: reuters)

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Bis vor wenigen Wochen sah es nach einem Jahr der Erinnerungen aus: Beginn des 1. Weltkriegs vor 100 Jahren. Leitartikler und Professoren, am Ende auch die Politiker, beugten sich über ein Thema, das Lichtjahre vom heutigen Europa entfernt zu sein schien. Dann waren die Winterspiele von Sotschi zu Ende und es begann die Krise um die Krim und die Ukraine, deren Ende nicht abzusehen ist. Eine überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland hofft, dass es sich um ein vorübergehendes Problem handelt. Andere Stimmen in West- wie in Osteuropa meinen, dass wir vor einem historischen Einschnitt stehen. Jeder ahnt oder weiß, was damit gemeint ist: die Gefahr eines Krieges ist an die Gestade der Wohlstandsinsel Europa zurückgekehrt. Anders ist die Äußerung von Bundesaußenminister Steinmeier über die Sorge der Bürger vor einem großen Konflikt nicht zu verstehen.

Natürlich werden Europa, die NATO, die Amerikaner wegen der Ukraine nicht in den Krieg ziehen. Das ist eine absurde Vorstellung. Denn in der Ukraine gelten machtpolitisch gesehen die Regeln des Kalten Krieges. Niemand formuliert dies brutaler als der ehemalige Bundeskanzler Schröder, der es verpasst hat, rechtzeitig von dem Kutschbock abzuspringen, auf dem er mit Putin fest angeschnallt ist. Schröders Russland-Geschäfte sind eine Katastrophe für seine Partei und das deutsche Ansehen in der Welt. Klar ist auch geworden, wie ideologisch gefestigt Schröders Anti-Amerikanismus ist, den weite Kreise der deutschen Gesellschaft bedauerlicherweise teilen. Wie der amerikanische Geheimdienstüberläufer Edward Snowden sitzt der Niedersachse nun in der Falle. Denn niemand weiß, wie viele rote Linien die Russen noch überschreiten werden. Ganz ist die Parallele zu den Vorgängen in Europa zwischen 1936 und 1938 nicht von der Hand zu weisen, als die Westmächte zusahen, wie Deutschland demokratische Staaten unter Druck setzte, zerschlug und am Ende annektierte.

Ein Soldat vor der ukrainischen Flagge.

Warnendes Beispiel Kosovo

Die Sorge, die man in der Welt von heute haben muss, ist eine andere. Eine bewusst herbeigeführte Destabilisierung von Staaten, wie wir sie gerade in der Ukraine erleben, kann zu wirtschaftlicher Not und Flüchtlingswellen gigantischen Ausmaßes führen. Wenn die Hoffnungen der Menschen auf eine friedliche Zukunft und persönliches Fortkommen enttäuscht werden, fällt in der globalisierten Welt der Entschluss leichter, das Land zu verlassen. Nahezu eine Million Menschen haben dies im Kosovo-Konflikt getan, eine sehr viel größere Zahl im syrischen Bürgerkrieg, vor dem Westeuropa und hier besonders Deutschland auf bemerkenswerte Art und Weise die Augen verschließen, die große türkische Solidarleistung kaum sehen. Das gilt übrigens in gleicher Weise für die Vorgänge auf der Krim und in der Ukraine, die sehr direkte Auswirkungen auf die Türkei haben, weil diese fast direkt an Russland angrenzt, anders als Deutschland den „polnischen Puffer“ nicht hat.

Daher spricht viel für die These, dass der sich abzeichnende Zusammenbruch der Ukraine als einigermaßen einheitliches Staatswesen gravierende Folgen für die europäische Mitte haben wird, am Ende die gesamte EU und auch die Türkei betreffen wird. Darauf ist Europa genauso wenig vorbereitet wie auf die Möglichkeit oder Notwendigkeit, harte Wirtschaftssanktionen gegen Russland durchzustehen.

Es zeigt sich, dass das westeuropäische Gesellschaftsmodell ein Schönwettermodell ist, nicht robust genug für aufziehende Stürme der Zeit. Ein kleines Indiz dafür sind die Vorgänge in Berlin rund um den Oranienplatz und eine von Flüchtlingen aus aller Welt besetzte Schule. Bei einer gewaltsamen Auseinandersetzung ist dort vor wenigen Tagen ein Mensch ums Leben gekommen. Die Politik taktiert und wartet ab, wer als erster bei diesem Schlagabtausch einknickt. Die Wahrheit ist jedoch, dass für die westlichen Gesellschaften das Boot schon jetzt „voll“ ist, die Gesellschaften nicht bereit sind, ihren Reichtum mit den Bedürftigen der Welt zu teilen. Dabei steht schon jetzt fest, dass zu den Afrikanern und zu vielen anderen bald jene hinzustoßen werden, die unsere Nachbarn in Europa sind: die Ukrainer.