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Gesellschaft

„Und dann stehst du da mit der Kamera in der Hand“

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Seit dem 27. Februar ist die Ausstellung „Zukunft leben: Die demografische Chance“ für 13 Monate auf Deutschlandtour. Die Kommunikationsdesignerin Seren Başoğul hat an dem Projekt der Leibniz-Gemeinschaft mitgewirkt. Das DTJ hat mit ihr gesprochen.

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„Und dann stehst du da mit der Kamera in der Hand“
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Es ist Januar. In der Hauptstadt schlendern die Menschen durch die Fußgängerzonen. Jung, alt, bunt, arm und reich. Kalt ist es, kein Wetter, bei dem man freiwillig viel Zeit draußen verbringen würde. Seren Başoğul hat jedoch keine Wahl, diese Woche sind die Straßen Berlins ihr Arbeitsplatz.

Seren soll Menschen fotografieren, am besten draußen, dafür ist sie eigens nach Berlin gereist. Die 29-jährige Aachenerin arbeitet an einem Projekt der Leibniz-Gemeinschaft. Ihre Aufgabe ist es, fotografisch festzuhalten, wie unsere Bevölkerung und das Zusammenleben heute aussehen. Zusammen mit historischen Bilder und Fotografien aus der jüngeren Vergangenheit werden ihre 40 Bilder im Ausstellungsmodul „Leben“ gezeigt.

Wie sieht unsere Bevölkerung heute, wie sah sie früher aus? Alleinerziehende, Patchworkfamilien, Kleinfamilien, gleichgeschlechtliche Beziehungen, Beziehungen statt Ehen. Es hat sich einiges geändert. Die Fotos wollen und sollen ihn sichtbar machen, den demografischen Wandel.

„Seid ihr ein Paar? Ja genau, ihr zwei.“

„Hinter jedem Foto steckt eine Menge Arbeit“, berichtet Seren, die Visuelle Kommunikation an der Fachhochschule Aachen studiert hat. Eine Woche war sie für das Projekt in Berlin unterwegs. Besonders die ersten Tage seien hart gewesen. „Das Anfangen war das Schwierigste. Ich habe gedacht, ich werde niemals fertig.“

„Du stehst da mit deiner Kamera in der Hand und willst die Menschen fotografieren. Das hört sich leichter an als es ist.“ Nach dem dritten Tag habe sie herausgefunden, welche Orte und Stadtteile sich für das Projekt gut eignen, und entsprechend ihre Vorgehensweise verfeinert. „Ein Lächeln auf den Lippen ist der erste Schritt, Menschen für sich zu gewinnen.“

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„Mein ambitioniertes Ziel – ein wohlhabenderes Paar auf der Französischen Straße fotografieren zu wollen – gab ich nach einer Weile auf und wollte gerade wieder in die U-Bahnstation abtauchen, um in einem neuen Stadtteil, einer anderen Welt, wieder aufzutauchen. So ist das nämlich in Berlin. Man hatte mich schon gewarnt, dass dies kein leichtes Unterfangen sein würde – nicht auf der Französischen Straße. Doch dann kam mir ein älteres Pärchen entgegen, beide Mitte siebzig. Ich stellte zunächst mich und im Folgenden das Projekt vor, zeigte ihnen schon fotografierte Pärchen auf meiner Kamera und wurde von der Dame für meine schönen Bilder gelobt. Ich freute mich so sehr über und für dieses Pärchen. Denn wie sich herausstellte, war er ein Türke und sie eine Deutsche.“

„Erklär doch mal bitte der kleinen Türkin in deiner Sprache, dass wir das nicht wollen!“

„Dieses Pärchen, in ihrem zweiten Frühling, war das perfekte Beispiel für ein schönes Miteinander-Leben und Altern in Deutschland. Der Mann war, nachdem ich ihm alles auch noch mal auf Türkisch erklärt hatte, begeistert und bereit, sich fotografieren zu lassen. Die Frau war hin und her gerissen. Schließlich drehte sie sich zu ihrem Lebensgefährten und sagte: „Du, erklär doch bitte der kleinen Türkin in DEINER Sprache, dass wir das nicht wollen.“ So lustig das auch im ersten Moment klingen mag – solche Erlebnisse treffen einen Menschen tief im Herzen. Ich fuhr zum Nollendorfplatz – da war alles anders und ich hatte mein Lächeln wieder.“

Diese Erfahrungen seien selten, gehörten aber zu ihrer Arbeit, meint Seren. Gerade deswegen liebe sie es, sich mit gesellschaftspolitischen Themen auseinanderzusetzen. Ihr geht es darum, die Welt zu begreifen und Veränderungen zu bewirken. Sie möchte mit ihrer Arbeit die Menschen „zum Nachdenken anregen.“ Ein Job in der Werbebranche kam beispielsweise für Seren nach dem Studium nicht infrage, denn Design sollte ihrer Ansicht nach immer ehrlich und unaufdringlich sein: „Werbung hat das Potential, den Betrachter in die Irre zu führen. Das kann schnell unmoralisch werden.“

Spaß, Lerneffekt und Mehrwert für die Gesellschaft

Die Designerin hat einen idealistischen Anspruch an ihre Arbeit, sie will Spaß haben und selbst dabei lernen. Der Aufenthalt in Berlin habe ihr gezeigt, wie schwer es manchmal sein kann, auf Menschen zuzugehen und auf Grenzen zu stoßen, auch sich seiner eigenen Vorurteile bewusst zu werden. Aber es sei spannend gewesen, mit wildfremden Personen zu sprechen und etwas über sie zu erfahren. „Seit Anfang des Jahres bin ich mit meiner Kamera für zwei verschiedene Portrait-Projekte unterwegs und muss fremde Menschen fotografieren. Menschen, mit denen ich wahrscheinlich sonst nicht in Kontakt gekommen wäre. Ich hätte nicht gedacht, in so kurzer Zeit, so viel über unterschiedliche Lebenskonzepte und Menschlichkeit zu lernen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Wahrheit des Anderen unserer eigenen nahe kommt. Es geht darum, sich damit zu konfrontieren, zu lernen und Anderssein zu akzeptieren. Wir sollten Begegnungen provozieren – vor allem mit dem, was uns fremd ist! Denn Vielfalt zu erleben ist eine unbezahlbare Bereicherung“, erzählt sie.

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Und auch Seren reflektiert über ihre eigene Arbeit, auch wenn sie nur einen kleinen Teil im großen Ganzen der Ausstellung darstellt. „Es ist schön, dass der demografische Wandel als Chance wahrgenommen wird. Als ich für das Projekt im Altersheim war, habe ich gespürt, wie einsam und traurig alte Menschen sind.“ Generell sei das „Altern“ sehr negativ belastet. Seren stört sich daran und möchte sich insbesondere für die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte einsetzen. „Was passiert mit den Menschen, die damals hierhergekommen sind? Wie gehen wir in der Gesellschaft mit dieser Verantwortung um? Sind wir darauf vorbereitet? Warum nutzen wir die Lebenserfahrungen der älteren Menschen nicht und lassen sie nicht mehr teilhaben am Leben?“ Das seien alles Fragen, die uns in ein paar Jahren beschäftigen werden – „wir sollten jetzt damit anfangen“, findet Seren.

In die gleiche Richtung gehen auch die Ausführungen der Kuratorin des Projektes, Petra Lutz: „Die Ausstellung soll zeigen: Der Wandel ist schon Realität, doch es liegt an uns, ihn zu gestalten. Das bietet die Chance, zu reflektieren, in welcher Gesellschaft wir leben sollen.“

Ab morgen ist die Ausstellung bis zum 02.06.2013 im Römisch-Germanischen Zentralmuseum, Museum für Antike Schiffahrt in Mainz zu sehen. Weitere Informationen können unter www.demografische-chance.de abgerufen werden.

Tourneeplan

Museum für Naturkunde, Berlin:
27.02.-7.04.2013

Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Museum für Antike Schiffahrt, Mainz
19.04.-2.06.2013

Deutsches Hygiene-Museum Dresden
14.06.-21.07.2013

Deutsches Bergbau-Museum, Bochum
20.09.-27.10.2013

Deutsches Schiffahrtsmuseum, Bremerhaven
15.11.2013-9.01.2014

Deutsches Museum, München
31.01.-30.03.2014