Connect with us

Gesellschaft

„Unsere Kultur lässt auch das Widerliche zu“

Spread the love

Thomas Heilmann äußert sich zu Themen, die in letzter Zeit die Muslime in Deutschland besonders bewegt haben, von der Beschneidungsdebatte bis zum Anti-Islam-Film. Auch zum Vorwurf, es gebe einen deutschen „Schattenstaat“, bezieht er Stellung.

Published

on

„Unsere Kultur lässt auch das Widerliche zu“
Spread the love

Berlin ist das erste Bundesland, das eine Zwischenlösung in der Beschneidungsdebatte ermöglicht hatte. Warum haben Sie so schnell reagiert?

Wir hatten viele Anfragen, besonders von Ärzten, ob Sie weiter beschneiden dürfen oder nicht. Ich denke, der Rechtsstaat konnte die Ärzte in dieser Rechtsfrage nicht allein lassen. Deshalb haben wir gemeinsam mit dem Generalstaatsanwalt von Berlin eine Lösung erarbeitet, die Rechtssicherheit schafft. Das ist aber eine Übergangslösung, die nur so lange gelten sollte, bis eine bundesgesetzliche Lösung gefunden wird.

Welche Hintergründe sehen Sie, wenn Sie an das Beschneidungsverbot denken? Hat man Angst vor Religionsausübung in der Gesellschaft?
Deutschlands Rechtssystem gibt in solchen Fragen Gesetzen den Vorzug. Schon 1806 hat der Preußische Staat eine gesetzliche Regelung hinsichtlich der Beschneidung gefunden. Dieses Gesetz ist durch die Wirren der Nazi-Zeit verloren gegangen. Nun hat man bemerkt, dass eigentlich ein Gesetz fehlt. Genau genommen hat dies ein Kölner Gericht festgestellt. Dem Kölner Gericht ging es nicht darum, die Beschneidung generell zu verbieten, sondern es hat festgestellt: „Uns fehlt ein Gesetz.“

Sie meinen, man könne nicht von einem Verbot sprechen?

Nach der aktuellen Rechtsprechung ist die Beschneidung eines Kindes ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit und das ist strafbar. Wenn man da eine Ausnahme zum Zwecke der Religionsausübung machen will, muss man das gesetzlich regeln. Das hat das Kölner Urteil klargestellt.

Das Bundesjustizministerium hat jetzt einen Gesetzentwurf erarbeitet. Ist dieser ausreichend?

Ich denke, es handelt sich hier um eine gute Diskussionsgrundlage. Ein Gesetz haben wir noch nicht.

Wie könnte es dazu kommen und durch wen? Wie ist dann die Prozedur beim Verfassungsgericht?

Zuständig sind Bundestag und Bundesrat. Das Verfassungsgericht wird die Frage vermutlich nicht vorgelegt bekommen. Weil dazu ein Quorum von Abgeordneten notwendig wäre, das ich nicht sehe. Oder es müsste jemand dagegen klagen, der zuvor der Beschneidung seines Sohnes zugestimmt hat. Aber es wäre schon ziemlich komisch, wenn die Eltern erst sagen würden, das Kind soll beschnitten werden und dann hinterher die Rechtsgrundlage anzweifeln.

Der Anti-Islam-Film löste in der muslimischen Welt große Proteste aus. Wo sind die Grenzen der Meinungsfreiheit? Oder kann man sagen, unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit übe man eine Art von physischer Gewalt gegenüber Muslimen im Westen aus?

Wir haben hier ein kulturelles Problem. Vorab gesagt: Ich finde das Video widerlich. Es bekommt von mir keinerlei Bestätigung. Aber unsere Kultur ist davon geprägt, dass wir auch das Widerliche zulassen, egal, ob es sich gegen Muslime, Christen, Männer oder Frauen richtet. Unsere Rechtsordnung zieht sehr weite Grenzen für die Meinungsfreiheit. Das hat gar nichts mit den Muslimen zu tun, sondern unsere Rechtsordnung lässt fast alles zu. Ich verstehe und akzeptiere die Empörung der Muslime, weil dies nicht der Rechtstradition ihres Kulturkreises entspricht.

Wie kann man die Werte von Religionen vor solchen Beleidigungen schützen?

Die Muslime sollten selbstbewusster sein. Die Muslime sollten nicht zulassen, dass solche radikalen Spinner ihre Religion beschädigen. Ich verteidige die Videos überhaupt nicht. Aber die Muslime sind stärker als solche Videos.

Wie beurteilen Sie das Verhalten von Muslimen, die in Deutschland leben, im Zusammenhang mit Protesten gegen die Anti-Islam-Videos?

Proteste gegen solche Videos sind erwünscht und werden von mir nachhaltig unterstützt. Die Frage ist nur, mit welchen Mitteln versuchen wir, solche Meinungsäußerungen zu verhindern? Mit Gewalt, mit der Justiz oder mit der Polizei?

Sie meinen, es gibt in Deutschland keine Grenze der Meinungsfreiheit?

Die Meinungsäußerung ist frei, aber die Tatsachenbehauptung ist nicht frei. Ich hoffe, dass sich in der muslimischen Welt die Meinung herausbildet, dass Muslimenfeindlichkeit im Westen nicht weit verbreitet ist, sondern dass die betreffenden Äußerungen Einzelfälle darstellen.

Innenminister Friedrich hat eine Anti-Radikalisierungskampagne gestartet, er will in einigen Städten Plakate aufhängen lassen, die bei vielen den Eindruck erwecken, Muslime wären besonders leicht radikalisierbar. Wie beurteilen Sie die Kampagne?

Diese Kampagne hat gute Absichten. Die öffentliche Reaktion zeigt jedoch, dass die Kampagne noch besser werden könnte. Ich habe vorher in diesem Bereich gearbeitet. Werbung ist nicht das richtige Mittel für diesen Zweck. Ich finde, die Zusammenarbeit mit vernünftigen Muslimen ist ein wichtiger Punkt. Die Zusammenarbeit zwischen Muslimen und dem Staat ist aber auch schon besser geworden durch die Islamkonferenz.

Sind Sie in der Hoffnung, dass die NSU-Morde und ihre Hintergründe aufgeklärt werden können?

Ich bin hinsichtlich der Aufklärung der NSU-Morde ganz optimistisch. Ob die Frage geklärt werden kann, welche Versäumnisse die Strafverfolgungsbehörden der einzelnen Länder zu verantworten haben, weiß ich nicht. Die Vertreter des Rechtsstaats müssen sich jedenfalls bei den betroffenen Familien entschuldigen.

Teilen Sie auch die Meinung, dass einige Beamten bzw. der Staat in diesem Fall Fehler gemacht haben?

Natürlich hat es auch auf staatlicher Seite Versäumnisse gegeben. Diese Fehler haben Menschen gemacht, nicht Maschinen. Es hat deswegen schon einige Rücktritte gegeben. Es könnten auch nach der Arbeit des Untersuchungsausschusses noch einige weitere Rücktritte bevorstehen.

Kann man im Zusammenhang mit dem NSU auch von einem „Staat im Staate“ reden?

Ich glaube nicht, dass es einen Schattenstaat gibt. Es handelt sich nicht um ein kollektives Versagen des Staates, sondern um das Versagen Einzelner.