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Politik

Urteil des EGMR: „1915 war kein Völkermord“ fällt unter Meinungsfreiheit

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Der EGMR hat in letzer Instanz bestätigt, dass es von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, die Ereignisse von 1915 explizit nicht als Völkermord zu bezeichnen. Er beendet damit einen jahrelangen Rechtsstreit zwischen Doğu Perinçek und der Schweiz.

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Viele Türken feiern es als Erfolg: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat gestern geurteilt, dass es in Europa unter den Schutz der Meinungsfreiheit fällt, den Begriff Völkermord für die Massaker an den Armeniern 1915 abzulehnen.

Auslöser für den Prozess vor dem EGMR war die Verurteilung des türkischen Politikers Doğu Perinçek in der Schweiz. Perinçek, Vorsitzender der links-nationalistischen Vatan Partisi (Heimatpartei), hatte 2005 auf einer Gedenkveranstaltung zum 82. Jahrestag des Vertrages von Lausanne ebenda eine Rede gehalten, in der er es als eine „internationale Lüge“ bezeichnete, die Ereignisse von 1915 einen Völkermord zu nennen. Daraufhin wurde er von der Gesellschaft Schweiz-Armenien angezeigt und 2007 von einem Schweizer Gericht auf der Grundlage der sogenannten ‚Rassismus-Strafnorm‘ nach Artikel 261 des schweizerischen Strafgesetzbuchs zu einer Geldstrafe von 12.000 Schweizer Franken (ca. 11.100 Euro) verurteilt.

Nachdem seine Revision im Alpenland abgelehnt wurde, wandte sich Perinçek im Juni 2008 an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser hatte im Dezember 2013 geurteilt, dass die Schweiz das in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschriebene Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe. Daraufhin ging die Schweiz in Berufung gegen das Urteil und rief die Große Kammer des EGMR an. Diese bestätigte gestern aber das Urteil von 2013 mit zehn zu sieben Stimmen.

EGMR sieht im Schweizer Urteil eine Verletzung der Meinungsfreiheit

Die Kammer begründete ihr letztgültiges und verbindliches Urteil damit, dass es in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig sei, Äußerungen wie die von Doğu Perinçek unter Strafe zu stellen, da sie keine Gefahr für die armenische Gemeinschaft darstellen. „Es ist unbestreitbar, dass Herr Perinçeks Verurteilung und Strafe, zusammen mit der Verfügung eine Entschädigung an die Gesellschaft Schweiz-Armenien zu zahlen, einen Eingriff in die Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung darstellte“, so das Gericht in seiner Urteilsbegründung.

Dennoch stellte der Gerichtshof in einem Statement auf seiner Internetseite klar, dass der Sachverhalt an sich im Prozess Perinçek gegen die Schweiz nicht zur Debatte stand. Es sei kein Urteil darüber gefällt worden, ob die Ereignisse von 1915 ein Völkermord waren oder nicht, sondern es wurde lediglich in Bezug auf den anhängigen Fall Herrn Perinçeks geurteilt. Auch mit einer eventuellen Rechtsprechung bezüglich der Leugnung des Holocausts habe das Urteil nicht zu tun. Es sei darüber hinaus nicht das erste Mal, dass der EGMR bezüglich der Ereignisse von 1915 urteilte. Bisher seien es jedoch fast ausschließlich Fälle gewesen, in denen sich Türken an das Gericht wandten, weil sie aufgrund von Äußerungen, in denen sie die Ereignisse einen Völkermord nannten, in der Türkei verurteilt wurden. Als Beispiele nannten sie die Fälle Güçlü gegen die Türkei und Dink gegen die Türkei. Bei letzterem handelte es sich um den bekannten türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der 2007 vom türkischen Rechtsextremisten Ogün Samast auf offener Straße ermordet wurde.

Freude auf türkischer, Kritik auf armenischer Seite

Perinçek selbst begrüßte das Urteil natürlich erwartungsgemäß überschwänglich: „Das ist ein historisches Urteil. In der Entscheidung geht es nicht nur um einen simplen Rechtsstreit, sondern um die Verteidigung der türkischen Heimat.“

Von armenischer Seite kam Kritik am Urteil. Bedo Demirdjian von der Europäisch-Armenischen Föderation für Gerechtigkeit und Demokratie verfolgte den Prozess und kritisierte Perinçeks Vorgehen: „Perinçeks Verteidigung versuchte das Gericht zu verwirren, in dem er sagte, dass er die Massaker an den Armeniern nicht abstreitet; dass er den Schmerz, den die Armenier erlitten haben, anerkennt; und betont dabei, dass auch Türken getötet wurden, weshalb man die Vorgänge nicht als Völkermord charakterisieren könne. Das ist inakzeptabel für uns: Täter und Opfer gleichzusetzen. Das ist die offizielle Linie des türkischen Staates, um seine Verbrechen reinzuwaschen.“

Unterstützung bekam Perinçek hingegen vom türkischen Außenministerium, das eine Mitteilung herausgab, in der es hieß: „Das Urteil stellt eine bedeutende juristische Errungenschaft vom Standpunkt der Demokratie, der Meinungsfreiheit und der Politik, die die Türkei in den letzten Jahren mit Geduld und Vermittlung verfolgt, dar.“

Die Ereignisse von 1915 sind bis heute ein sehr heikles Thema in der Türkei und darüber hinaus. Zwischen einer halben und anderthalb Millionen Armenier kamen während des Jahres 1915 in Anatolien ums Leben. Während die Türkei davon spricht, dass es sich um kriegsbedingte Deportationen handelte, die notwendig geworden seien, weil die armenische Bevölkerung mit den russischen Invasoren kooperierte, sprechen Armenier und die meisten westlichen Staaten von einem Völkermord. Die internationale Wissenschaft vertritt mehrheitlich die Genozid-These, die aber vor allem von den meisten türkischen Historikern zurückgewiesen wird.