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Politik

„Verlasst die Türkei. Sofort!“

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Die Hoffnungen der meisten regierungskritischen Türken, dass ihr Land zurück auf den Pfad der Demokratie gelangen könnte, schwinden immer weiter. Zunehmend fassen vor allem Akademiker, Künstler und Geschäftsleute den Entschluss, das Land zu verlassen.

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Erstürmung der Zaman
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Als Anfang 2014 wichtige Wahlen anstanden, gab es Hoffnung auf politische Veränderung bei vielen, die mit dem neuen Kurs der AKP nicht einverstanden waren. Das erste Großereignis, bei dem dieser neue Kurs der AKP nicht nur für die türkische, sondern auch für die Weltöffentlichkeit sichtbar wurde, war die polarisierende Haltung Recep Tayyip Erdoğans während der Gezi-Proteste im Sommer 2013. Der Staat griff mit harter Hand durch, es kam zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten, unter die sich auch krawallsuchende Provokateure mischten, Tote und Verletze waren die Folge. Dieser Kurs verschärfte sich nach der Korruptionsaffäre vom Dezember 2013 zusehends und wurde mit noch eklatanterer Gesetzlosigkeit gegen alle Kritiker und Gegner fortgesetzt. Dieser neue Kurs war autoritär, nationalistisch und islamistisch zugleich. Jeder, der gegen Erdoğan und seine AKP war, war entweder Vaterlandsverräter oder ausländischer Agent. Um seine tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner auszuschalten, setzte er alle Mittel des Staates hemmungslos ein, schaltete die Medien gleich, hob die Gewaltenteilung nach und nach auf, griff mit neu eingerichteten Sondergerichten in Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Eigentumsrecht ein, installierte Zwangsverwalter an den Spitzen von Unternehmen, Schulträgern und Medienhäusern, die er dem gegnerischen Lager zuordnete. Erdoğan ist ein Meister darin, immer neue Feindbilder aufzubauen und von jetzt auf gleich seine Positionen zu ändern. Das Volk vertraut ihm aufgrund seiner früheren Verdienste, kauft ihm das ab.

Als all das passierte, fanden Wahlen statt. Erst die Kommunalwahl im März 2014, dann die Präsidentschaftswahl vom August 2014 und schließlich gleich zwei Parlamentswahlen im Juni und November 2015. Erdoğan entschied – mehr mit unfairen als mit fairen Methoden und Mitteln – alle vier Wahlen mehr oder weniger für sich. Die Wahlerfolge interpretierte er als Persilschein für die Umsetzung einer neuen Türkei, seiner Türkei. Dabei war die Unfähigkeit der Opposition, gemeinsam Position gegen ihn zu beziehen, eine willkommene Unterstützung, die er voll ausnutzte.

Nun sind die Hoffnungen auf ein Ende der Ära Erdoğan verflogen, Protest und Widerstand haben kaum Hoffnung auf Erfolg und diejenigen, die es sich leisten können, planen, die Türkei zu verlassen – falls sie das nicht wie der Journalist Kerim Balcı bereits getan haben. Balcı, der als Kolumnist für die Tageszeitung Zaman arbeitete, verließ an dem Tag, als die Medien von Koza İpek gestürmt und unter Zwangsverwaltung gestellt wurden, sein Land, um ihm „auf einem anderen Wege zu dienen“.

„Man wird euch innerhalb von drei Monaten zu Terroristen erklären“

Balcı berichtet von einem Gespräch in der Zaman-Zentrale in Istanbul-Yenibosna im August 2015: Der Gast aus Südamerika sei neugierig gewesen, was gerade in der Türkei geschehe. Balcı klärte den interessierten Gesprächspartner ausführlich über die Lage auf. Seine Reaktion: „Verlasst sofort die Türkei, ohne Zeit zu verlieren! Man wird euch innerhalb von drei Monaten zu Terroristen erklären. Dann werden sie Zwangsverwalter für eure Medienhäuser einsetzen und in zwei bis drei Jahren wird es keine oppositionellen Medien mehr geben.“ Der Gast war ein guter Kenner der Geschichte Venezuelas: „All das, was ihr hier gerade durchmacht, hat Venezuela bereits hinter sich. Diktatoren lernen voneinander. Verlasst sofort das Land!“

Balcı schreibt nun aus dem Ausland Kolumnen für die neue Tageszeitung Yeni Hayat, die von ehemaligen Zaman-Redakteuren herausgebracht wird. Zaman wurde am 4. März 2016 von Anti-Terror-Einheiten gestürmt und steht seitdem unter staatlicher Zwangsverwaltung. Die Auflage der einst auflagenstärksten Tageszeitung der Türkei ist auf unter fünftausend gesunken.

Balcı ist kein Einzelfall. Egal ob Journalisten, Lehrer oder Unternehmer: Gegen viele gesellschaftliche Gruppen hat die AKP-Regierung eine Hexenjagd gestartet, die Hizmet-Bewegung ist eine der bekanntesten. Mehr als 2000 Menschen müssen sich vor Gericht dafür verantworten, dass sie Spenden für Arme sammeln, Stipendien für bedürftige Studenten organisieren oder an Gesprächszirkeln teilnehmen, bei denen Texte von Fethullah Gülen erörtert werden. Über 500 von ihnen sitzen in Gefängnissen. Zu den Angeklagten gehören Lehrer, Geschäftsleute, Hausfrauen, Rechtsanwälte und Theologen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem keine Razzia gegen eine Hizmet-Einrichtung durchgeführt wird. Mal in Istanbul oder Izmir, ein anderes Mal in irgendeiner Stadt im Herzen Anatoliens. Die Botschaft Erdoğans ist klar: Entweder ihr gebt auf oder ich mache euch fertig. Die Antwort der muslimischen Öffentlichkeit in der Türkei: Schweigen, Wegsehen oder gar Beifall.

Auch der Politikwissenschaftler und Erdoğan-Kritiker Dr. Savaş Genç lebt mittlerweile nicht mehr in Istanbul, sondern in der Universitätsstadt Heidelberg, wo er vor über 10 Jahren seine Doktorarbeit geschrieben hat.

Von TRT gefeuert, weil er es wagte, die AKP zu kritisieren

Nach seiner Promotion ging er in die Türkei, unterrichtete an der Fatih-Universität internationale Beziehungen und machte Karriere als Journalist und Nahost-Experte. Er moderierte zeitweilig einen Polittalk für das staatliche Fernsehen TRT. Als er begann, Kritik am Wandel der AKP von einer Volks- zu einer Staatspartei und an ihrer gescheiterten Außenpolitik zu üben, wurde er von TRT gefeuert. Der Türkei-Experte sieht in der Entwicklung, von der er auch persönlich betroffen ist, einen nachhaltigen Trend. „Die Türkei verliert wichtige Köpfe und heimisches Finanzkapital“, sagt Genç und beschreibt die Gruppe, welche die Türkei mehr gezwungen als freiwillig verlässt: „Es sind Menschen, die Fremdsprachen beherrschen und die finanziellen Mittel haben, auch im Ausland für ihren Unterhalt zu sorgen. Ein wichtiger Teil der Akademiker will raus aus der Türkei, falls er es nicht bereits ist.“ Über die Beweggründe sagt er: „Die Gründe sind sich sehr ähnlich, fast identisch. Seit den Wahlen vom 1. November ist die Hoffnung, dass die Türkei wieder zur Demokratie zurückkehren könnte, verloren gegangen. Die Regierung kontrolliert über 90 Prozent der Medien und die Zivilgesellschaft hat nicht mehr die Kraft, Widerstand zu leisten.”

Ein weiterer Grund für die Auswanderung ist die Polarisierungsstrategie der AKP. Um die 50 Prozent des Wahlvolkes an sich zu binden, dämonisiert sie die anderen 50 Prozent. Neben der Hizmet-Bewegung am härtesten davon betroffen sind die Kurden. Über die Assimilationspolitik gegen die größte ethnische Minderheit des Landes und die Ausgrenzungspolitik gegenüber der HDP schreibt der Politikwissenschaftler İhsan Yılmaz in der Tageszeitung Meydan: „Die Wahl der HDP-Abgeordneten in das Parlament ist ein Zeichen des demokratischen Willens, der sich im Parlament widerspiegelt. Es ist eine große Bosheit, dass die Parteien AKP, CHP und MHP gemeinsam gegen sie vorgehen und aus dem Parlament zu zerren versuchen. Es ist eine Ungerechtigkeit und erinnert an die dunklen 90er-Jahre. Es ist ein Putsch gegen die Demokratie, eine Ungerechtigkeit an den Kurden. Sie stärkt die Terrororganisation PKK, belohnt sie, mästet sie und ebnet zudem der Teilung der Türkei den Weg.“

Das gesellschaftliche Klima ist vergiftet und es herrscht eine gereizte Stimmung im Land. „Es ist so, als ob jeden Augenblick etwas passieren könnte und man sich im Gefängnis findet oder sich wegen eines Terrorvorwurfs vor einem Sondergericht erklären muss. Die Justiz ist nicht unabhängig. Man weiß nicht, wer wann Opfer des Erdoğan-Systems sein wird.“

Die Fakten sprechen für die Analyse von Dr. Genç: Die Zahl derjenigen, gegen die Anklage wegen Beleidigung gegen den Präsidenten erhoben wird, steigt von Tag zu Tag. Unabhängige Nachrichtenportale wie Diken berichten fast jeden Tag unter der Überschrift „Die Erdoğan-Beleidigung des Tages“ über Verfahren gegen Erdoğan-Kritiker. Die letzte Meldung ist vom 6. Mai 2016. Erdoğan hat gegen Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP, und Selahattin Demirtaş, den Ko-Vorsitzenden der pro-kurdischen HDP, Anklage wegen Beleidigung eingereicht. Das Justizministerium hatte allein bis Anfang März bereits 1845 Klagen zugelassen.

Die Türkei macht in diesen Tagen nicht wie so oft in ihrer Geschichte nur eine politische Krise durch, was ja schlimm genug wäre. Es ist eine tiefe Krise des politischen Systems und der Gesellschaft als Ganzes. Sie zehrt an den Fundamenten und schafft neue Tatsachen. Tatsachen, unter denen Millionen von Menschen leiden, weil sie Erdoğan nicht in seine neue Türkei folgen wollen.