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DTJ-Blog

Versäumnisse und falsche Wahrnehmungen im Islam

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Analysiert man die aktuelle Situation in den Medien oder Diskursen, entsteht schnell der Eindruck, dass der Koran ein Buch des Krieges, Kampfes und Todes wäre. Kritiker des Islam auf der einen und muslimische Extremisten auf der anderen Seite erklären immer wieder gerne mithilfe von bestimmten Versen den Koran zu einem gewaltbereiten Dokument und einem Buch, das in dieser Weise in der heutigen Gesellschaft verstanden werden müsse. Durch diese und ähnliche Verständnisse des Korans entsteht somit der Vorwurf, dass der Koran gegen einen interreligiösen Dialog bzw. Austausch sei, der Islam einen aggressiven Charakter habe und die Muslime ansporne, Andersgläubige zu töten oder ihnen nicht zu vertrauen.

Doch haben die Kampf- und Kriegsverse tatsächlich eine so große Präsenz im Koran? Um dies beurteilen zu können, ist es erforderlich, den Koran als Ganzes zu betrachten.

Es gibt mehr als 6000 Verse im Koran, von denen ca. 500 rechtsverbindlich sind. Das ist umgerechnet etwa ein Zwölftel des Korans. Die restlichen Verse des Korans befassen sich mit Glaubensfragen, mit Geschichten über Propheten oder solchen über ältere Völker, die die Absicht haben, Muslime zu warnen oder zu ermutigen. Von diesen 500 rechtsverbindlichen Versen befassen sich gerade einmal zwei Verse zentral mit Kampf und Tod (mit Wiederholungen). Die zu Frieden und Toleranz aufrufenden Verse hingegen bilden etwa zwei Drittel des Korans.

Was aber ist der Grund für die starke Präsenz der Kriegs- und Kampfverse?

Als ich 2011 die Zusage zum Studium der islamischen Theologie erhielt, wollte ich nicht zuletzt das Internet nutzen, um auf Deutsch über den Islam zu lesen und zu lernen. Außer einigen wenigen Videopredigten von Pierre Vogel war jedoch so gut wie nichts da. Ich lernte durch diese Predigten jedoch nicht nur einen Islam auf Deutsch kennen, was ja auch meine eigentliche Intention war, sondern auch eine Polarisierung und vor allem Hetze gegenüber Nichtmuslimen im europäischen Kontext. Da auch in dieser Hinsicht in der von mir als Kind besuchten Moschee wenig vermittelt wurde, war das vorerst mein Islambild als Theologiestudent.

Wenig später jedoch sah ich im Laufe meines Studiums, dass die eigentlichen Quellen des Islam, der Koran und vor allem die Sunna des Propheten Muhammad, genau das Gegenteil dessen zeigten, was die von Vogel erwähnten Thesen in den Predigten ausmachte.

Als ich dann mein Selbststudium in diesem Bereich vertiefte, merkte ich, dass die Friedensverse im Koran eine viel stärkere Präsenz als die kriegerischen Verse haben. Ich stellte mir die Frage, warum heutzutage insbesondere die kriegerischen Verse im Vordergrund stehen, wogegen doch die zu Frieden und Toleranz aufrufenden Verse zwei Drittel des Korans ausmachen.

Gründe dafür mag es mehrere geben. Für die einen sind es die Medien, für die anderen der Kolonialismus. Ich aber möchte vielmehr aus der muslimischen Perspektive versuchen, dieser Frage auf den Grund zu gehen.

Welche Rolle spielen nun die Muslime bezüglich der großen Präsenz der Kriegs- und Kampfverse in der Öffentlichkeit?

Vor allem drei Aspekte sind festzuhalten, wenn es um diesen Themenkomplex geht:

1. Naskh wa Mansukh (Abrogationslehre)

2. Heroisierung des Propheten in der islamischen Geschichte

3. Vernachlässigung der Muslime

Zu 1. Vielen muslimischen Gelehrten zufolge machen es sich die Terroristen, die ihren Mord und Totschlag mit dem Koran legitimieren, sehr leicht. Zwei Verse (9/5 und 9/29), in denen zentral vom Kampf und Tod die Rede ist, abrogierten nach ihrer Auffassung weit über 400 Verse im Koran, die von Frieden, Toleranz und Versöhnung sprechen: 

Sie sind der Meinung, dass diese zum Frieden aufrufenden Verse (Respekt und Güte: 2/83, 6/108, 16/125, 25/63, 29/46 und 60/8; Nachsicht und Vergebung: 2/109, 22/68, 42/40, 5/13, 23/96 und 43/89; Glaubensfreiheit: 2/256, 10/99, 10/108, 39/15, 68/44, 73/11, 73/19, 74/11, 76/29 und 109/6) keine Relevanz hätten, da sie sich in einer Zeit des Krieges befänden.

In der Zeit des Krieges hätten die Kriegsverse die Oberhand und demgemäß hätten sie alle Friedensverse abrogiert. Wobei selbst das jedoch einer sehr gewagten Interpretation gleichkäme, da die Anlässe der Offenbarung dieser Verse zeigen, dass die damit zusammenhängenden Kriege keine totalen Kriege waren, sondern Verteidigungskriege. Polytheisten beschlossen, nachdem sie zehn Jahre lang die Muslime gefoltert hatten, gegen diese einen Vernichtungskrieg zu führen, da sie gemerkt haben, dass die Anzahl der Muslime sich trotz der Folter vermehrte. Demgemäß sind diese beiden Verse offenbart worden, damit die Muslime zu Waffen greifen bzw. sich verteidigen können. Auf einen Vernichtungszug friedlich und geduldig zu reagieren, wäre auch absurd.

Zu 2. Wenn man die ersten Werke über das Leben des Propheten betrachtet, fällt eines stark ins Auge: Diese Werke beschäftigen sich überwiegend mit den Kriegen zu seiner Zeit. Sie befassen sich entweder nur mit Kriegen oder haben den Krieg im Mittelpunkt. Selbst die Titel dieser Werke beinhalten den arabischen Begriff für Krieg, „Maghazi“.

Auch heute ist es leider nicht anders.

Der einzige Film über den Propheten, den es auch auf Deutsch und Englisch zu sehen gibt, erweckt den Anschein, als ob das Leben des Propheten nur aus Krieg und Konflikten bestand. Wobei die Kriege, zeitlich betrachtet, gerade einmal zwölf aktive Tage des 63-jährigen Propheten Muhammad ausmachen – und der Rest seines Lebens eigentlich nur aus toleranten, respektvollen und versöhnenden Handlungen bestand.

Auch in Bezug auf Europa ist diesem Phänomen zu begegnen: Noch heute kursieren im Internet Videobotschaften, in denen primär über die heroische Seite des Propheten, die zum Teil auch auf eine polarisierende Art und Weise erklärt wird, gesprochen wird.

Der Grund für die Darstellung des Propheten in dieser Art und Weise ist, dass die damaligen Araber, sowohl in der vorislamischen Zeit als auch nach Verkündung des Islam, immer wieder von Kriegen sprachen, um so ihre Stärke gegenüber den Feinden zu demonstrieren und diese abzuschrecken. Die strategische Gegebenheit erforderte dies, weil dies damals das einzige taugliche Mittel war, einem Krieg entgegenzuwirken.

Selbst Ereignisse aus dem Leben des Propheten wurden nach dessen Ableben auf der Basis der Kriege dokumentiert. So wird eines etwa wie folgt datiert: „Dieses Ereignis fand elf Monate nach dem Krieg x des Propheten statt“.

Auf diese Art und Weise wurden die heroischen Taten des Propheten in den Vordergrund gestellt, was aber im Gegenzug dazu führte, dass die toleranten, respektvollen und friedlichen Verhaltensweisen des Propheten wenig bis kaum zu den nichtmuslimischen Zeitgenossen durchdrangen. In den letzten Jahren jedoch gab es sowohl im arabischen als auch ganz besonders im türkischen Raum verstärkte Bemühungen, diese vergessene bzw. vernachlässigte Seite des Propheten wieder in den Vordergrund zu stellen.

Zu 3. Weitere Aspekte sind zudem, was in den letzten Jahren stark zutage trat, viel Unwissenheit und ganz besonders Vernachlässigung vonseiten der Muslime. Ich bin der Meinung, dass es außerordentliche Versäumnisse vonseiten der Muslime gegeben hat, die den Markt jenen Pseudo-„Muslimen“ mit terroristischen Gedanken überlassen haben, indem sie sich in den letzten Jahrzehnten nur auf das eigene Leben, auf die Arbeit und auf das Geld konzentriert haben oder sich – insbesondere in Deutschland und Europa, stets zu sehr mit dem Gedanken einer Rückkehr befasst hatten statt mit ihrer Gegenwart in Deutschland.

So haben sie nicht nur ihre Kinder vernachlässigt, sondern auch ihre Religion, woraufhin eine Unwissenheit und kein neues Verständnis des Islam auf europäischem Boden entstand. Einem deutschen Kulturwissenschaftler zufolge, der für seine Studien zur Türkei bekannt ist, hatten die ersten türkischen Gastarbeiter nicht einmal die Idee, eine Moschee auf deutschem Boden zu errichten, sondern begnügten sich vielmehr damit, türkische Kulturzentren zu konstituieren, damit das Türkischsein nicht verloren geht. Die Religion war also am Anfang im Hintergrund.

Das Verständnis des Korans im neuen Kontext ist eine Obligation. Wenn der Koran nicht der Lebensweise gemäß neu gelesen wird, sondern man im Gegenteil versucht, die alte Lebensweise und das alte Verständnis des Korans in die neue Situation zu integrieren, kann dies nur fatale und unpassende Folgen haben. Somit schadet man jedoch nicht nur dem Geist des Korans, sondern auch sich selbst und insbesondere der Gesellschaft. Der Islam wird fatalerweise als rückständig bezeichnet, ja es wird sogar versucht, islamische Prinzipien zu leugnen bzw. ihnen die Legitimität abzusprechen, da diese angeblich nicht zu den rechtsstaatlichen Prinzipien passen. Denn was kann der Islam dafür, wenn Muslime ihn nicht neu verstehen wollen? Wobei die Bemühung um das neue Verständnis durchaus gegeben ist, nur vermögen dies einige wenige nicht nachzuvollziehen.

Um diesen Aspekten entgegenzuwirken, ist es unumgänglich, sich darüber im Klaren zu sein, dass wir heute in Deutschland leben und nicht zurück wollen. Es ist wichtig, den Koran neu zu lesen, mit der Absicht, auf eine friedlichere und gerechte Welt hinzuarbeiten. Es ist wichtig, den Menschen zu lieben, ganz gleich, welcher Religion und Kultur er angehört, welche Sprache er spricht und welche Lebensweise er hat – ihn zu lieben, weil er Geschöpf Gottes ist. Wenn ich die Entwicklung der letzten Jahre betrachte, sehe ich eine Bemühung hin zu diesem Verständnis. Ganz besonders ist mir aufgefallen, dass auch ehemalige Kritiker dieser Ansätze heute, im europäischen Kontext, diesem Verständnis nachgehen.

Durch die Gründung der islamischen Theologiezentren hat auch der deutsche Staat gezeigt, dass er in dieser Hinsicht den Muslimen eine Stütze sein möchte. Jetzt liegt es in unserer Hand, ungeachtet der negativen Erfahrungen in der gemeinsamen Geschichte der Muslime und Nichtmuslime, dem Koran und dem Leben des Propheten entsprechend zu handeln. Mit Liebe und Toleranz im Zentrum des Lebens.