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Viele Zeitungen nutzen die Ängste der Leser gezielt aus

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Aufmerksamkeit zu erregen ist für Medien in der Welt der permanenten Reizüberflutung wichtiger als zu informieren. Gelobt sei, was Angst macht oder sich zumindest dazu eignet. Jürgen Nielsen-Sikora über mediale Inszenierung.* (Foto: dpa)

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Viele Zeitungen nutzen die Ängste der Leser gezielt aus
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„Nähme man den Zeitungen den Fettdruck, um wie viel stiller wäre es auf der Welt!” stellte der deutsche Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890-1935) einst fest. Für die Informations- und Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts gilt diese Einschätzung wohl mehr denn je. Wir Zeitungsleser müssen uns durch ein Informationsgestrüpp kämpfen, das nie dichter war. Eine Schlagzeile jagt die nächste, und schon wissen wir gar nicht mehr, woher wir all die Zeit nehmen sollen, so viel nicht zu lesen. Das Geschrei der Aufmacher reißt uns aus unseren Tagträumen, die uns und all unsere virtuellen Nachbarn noch glauben ließen, niemand wüsste, ob eine Nachricht von Bedeutung sei, bevor nicht einhundert Jahre vergangen wären. Damit ist ein für alle Mal Schluss. Wir Leser leben im Hier und Jetzt. Wir sind Medienmenschen durch und durch. Uns scheint nahezu jede Nachricht bedeutsam, weil man uns mit Bedeutung und aktuellen Meldungen halb totschlägt. Glücklich sind nur die, die im Schatten der globalen Vernetzung und der Simultaneität der Informationen noch wissen, dass Aktualität der Gipfel der Belanglosigkeit ist und aus diesem Grunde ihre eigene Topographie der Informationen entwickelt haben.

Damit der zeitgenössische Zeitungsabonnent den Gipfel des Unbedeutenden aber auch tatsächlich erklimmt, hat der liebe Gott den Journalisten geschaffen. So jedenfalls nennt man jene Wesen, die immer nur für andere, aber nie für sich selbst schreiben. Spätestens seit Orson Welles‘ Filmklassiker „Citizen Kane“ wissen wir, dass sie in erster Linie für ihre Verleger schreiben, die ihre Verkaufszahlen steigern müssen. Wie auch dem Protagonisten in Welles‘ Spielfilm von 1941 geht es ihnen nicht um Informations- und Wissensvermittlung, sondern um Absatzmärkte und Kunden. Einst als vierte Gewalt der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung gefeiert, reicht es ihnen heute oftmals aus, den eigenen Unsinn zu systematisieren, damit er zur Meinung von vielen wird.

Heutzutage nutzen viele Zeitungen die Ängste der Leser gezielt aus

Doch sind wir als Leser nicht schon dazu übergegangen, selbst im Fettdruck zu denken? Schließlich nutzen viele Zeitungen heutzutage die Ängste ihrer Leser aus. Das bedeutet nicht weniger, als dass sie sie manipulieren, weil durchaus Gründe für Ängste vorhanden sind. Andererseits suggerieren sie ein Zugehörigkeitsgefühl und versuchen dadurch, gleich wie verlogen es sein mag, heimatlos gewordene und entwurzelte Menschen für eine Sache einzuspannen, die von ihnen selbst gesteuert wird. Insbesondere das Agenda-Setting großer Blätter nutzt so Sehnsüchte von Lesern nach neuen Autoritätssymbolen.

„Ihre geheimsten Gedanken”, schrieb der deutsche Literatursoziologe Leo Löwenthal, „die sie kaum sich selbst einzugestehen wagen, werden zu den aufreizendsten Agitationsthemen.” Nur ein Beispiel: „Wir sind Papst” war keine Schlagzeile – es war vielmehr die Aufforderung der Bild-Zeitung, religiöse Sinnstiftung im beschränkten Gesichtskreis der eigenen Nationalität zu entdecken. Zusammen mit dem Spiegel-Titelblatt „Mekka Deutschland“ (März 2007) gelesen, zeigt sich das Heraufbeschwören neuer Gefahren für die – zumindest nach dem Eindruck des „Bild“-Titelblattes vom 20.4.2005 -wiedergewonnene Religiosität der Deutschen.

Es zeigt sich aber auch, dass das Hamburger Nachrichtenmagazin nur im Spiegel des Springer-Blättchens vollends entziffert werden kann. In diesem Kontext muss ein altes Wort des französischen Dramatikers Molière (1622-1673) korrigiert werden, der behauptete, wer am meisten lüge, komme in die Zeitung. Denn von nun an gilt: Wer am meisten lügt, ist die Zeitung.

Ein Grund dafür liegt in der Tatsache, dass in diesem Land nur noch Botschafter und Kuriere unterwegs sind, aber keine Könige mehr. Früher hatten die Monarchen Berater. Heute sind die Berater selbst Monarchen, und ihr Heer von Kurieren jagt über den Globus und brüllt sich selbst die sinnlosesten Meldungen zu. Dann zitiert ein Kurier den anderen, Kampagnen werden entwickelt, und am Ende übernimmt der Journalist genau dort die Herrschaft, wo sie der Verstand verloren hat. Im Verbund mit den Presseagenturen und Redaktionen erhält die Welt Bedeutung allein durch das, was ihren Informationsfilter passiert hat. All jene Informationen, die neu und kurios genug sind, haben gute Chancen, als Fettdruck zu enden.

Wer am meisten lügt, kommt in die Zeitung

Je überschaubarer die Information, je bedeutender die Person scheinbar ist, desto eher wird eine Information zur Nachricht. Im Schlepptau einer Nachricht folgen weitere mit ähnlichem Informationsgehalt. Doch der Nachrichtenwert einer Information ist keine objektive Größe. Der Schwellwert ist vor allem in den Boulevardmagazinen sehr niedrig. Und seit der Abschaffung des Sendeschlusses, der Einführung von Online-Redaktionen und Sonntagsausgaben ist die Welt in erster Linie eine Nachrichtenwelt, in der jeder für eine Viertelstunde berühmt sein, oder wieder zu Berühmtheit gelangen kann – wie etwa Ralph Giordano im Zuge seines Kreuzzuges gegen den Bau von Moscheen. Dieser medial inszenierte Moscheenstreit in Deutschland hat darüber hinaus gezeigt, dass vieles von dem, worüber berichtet wird, eine Art Fußnote zu anderen Geschehnissen ist.

Von den Anschlägen des 11.September hin zur Abrechnung mit dem Islam ist es dann nur ein kleiner Schritt für die Presse, aber ein großer für die Menschheit. Und weil ja ohnehin alles mit allem in irgendeiner Weise zusammenhängt in der globalisierten Welt, fällt nur wenigen auf, dass alle Themen in einem großen Topf zum medialen Einheitsbrei vermengt werden. Wir Leser sind ja auch selbst schuld, wenn die Presse ein so leichtes Spiel mit uns hat: Ein Ereignis, das uns ein wenig sensibilisiert, und schon ist der Fettdruck auf Jahre vorprogrammiert. Und ganz am Ende erscheint dann wieder eine Zeitungsausgabe, die ganze Literaturepochen unter sich begräbt.

Meine Sympathie gilt deshalb vor allem den so genannten „Grubenhunden”, die gezielt Falschmeldungen in der Presse verbreiten, um deren Autorität zu untergraben. Die Hitler-Tagebücher waren so ein Fall. Gefährlich werden diese Hunde nur dann, wenn sie der Presse selbst oder gar der Politik angehören und zu Falschmeldungen greifen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Das heißt, gesellschaftlich relevante Probleme tauchen immer auf, wenn die „Bild” Politik macht oder ein westlicher Politiker von Massenvernichtungswaffen spricht. Aber da hört es ja nicht auf: Ich persönlich kann all die inszenierten Konflikte einfach nicht mehr ertragen.

Das betrifft nicht nur den immer wieder und wieder zitierten Kulturkampf, der davon auch nicht wahrer wird. Es betrifft in erster Linie diese Scheindebatten der Prominenz, auch der Intellektuellen: Martin Walser contra Ignatz Bubis, Jürgen Habermas contra Peter Sloterdijk, Henryk M. Broder contra Jakob Augstein, Ralph Giordano contra Ditib. Warum es ausgerechnet angegrauten Islamhassern gelingt, mit ihren Apokalypse-Visionen nicht nur die örtliche und überregionale Presse zu dominieren, sondern wir Leser sofort darauf verzichten, uns selbst ein Urteil zu bilden, wenn einer wie Giordano oder Broder spricht, bleibt mir allerdings bis heute ein Rätsel.

Da tröstet mich auch der gute Mark Twain (1835-1910) kaum. Er schrieb: „Ich habe die Morgenzeitung gelesen.” Und er fügte sogleich hinzu, dass er das jeden Morgen mache, „wohlwissend, dass ich darin die gewöhnlichen Schlechtigkeiten und Gemeinheiten und Heucheleien und Grausamkeiten finden werde, die die Zivilisation ausmachen und die mich veranlassen, den Rest des Tages um die Verdammung der menschlichen Rasse zu bitten.”

Einige Medien scheinen einen „Aufmerksamkeitserregungswettbewerb” zu veranstalten

Mit diesen Worten benennt Twain sogleich das Erfolgsrezept der Zeitungen, die darum wissen, dass uns Leser das Böse fasziniert. Oder das, woraus sich etwas Böses machen lässt, siehe den Bau einer Moschee. Wäre das personifizierte Böse, wäre Mephisto Journalist gewesen, so hätte Goethe ihn sagen lassen: „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was Ihr Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, mein eigentliches Element.”

Das Böse muss schwarz sein, und weil das Böse schwarz ist, hat der Journalist den Fettdruck erfunden. Das ist sein eigentliches Element. Damit der Adressat das Böse auch registriert und ihm Aufmerksamkeit schenkt, muss es entsprechend präsentiert werden. Deshalb sind einige Medien dazu übergegangen, eine Art „Aufmerksamkeitserregungswettbewerb” zu initiieren. Das Wort stammt leider nicht von mir, sondern von dem Berliner Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz. Er sieht in den modernen Medien gar eine Art Ersatzreligion – womit wir wieder bei Mephisto wären. Die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang lautet: Wie gewinnen wir für die neue Medienreligion Anhänger und Gläubige?

In dem Wettbewerb um zahlreiche Jünger eignen sich bekanntlich Kriege und Konflikte gut, um Aufmerksamkeit herzustellen. Getreu Napoleons Motto „Weck mich nicht auf, wenn Du gute Nachrichten hast, aber wenn Du eine schlechte hast, dann darf keine Minute vergehen” wissen wir, dass negative Ereignisse uns aufhorchen lassen. Das hat weniger damit zu tun, dass wir Wesen des Mitleids wären, sondern vielmehr damit, dass einige von uns erst über die Lektüre vom Tod eines Anderen bemerken, dass sie selbst noch leben. Das ist wahrscheinlich der eigentliche Sinn des Fettdrucks. Und wäre der nicht, wäre es in der Tat äußerst still in der Welt.
* Dieser Text erschien 2008 in der Zeitschrift „Zukunft”